Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bilderbibel für die Fastenzeit
Verehrt, missachtet und wiederbelebt: das imposante Heilige Grab in der Martinuskirche von Dietenheim an der Iller
DIETENHEIM - Das Heilige Grab in Dietenheim ist ein Kleinod, das viele Gläubige und Kunstinteressierte während der Fastenzeit in die Martinuskirche lockt. Bis Karfreitag noch kann an der Iller zwischen Ulm und Memmingen die Passionsgeschichte in barocker Farbigkeit und Erzählfreude bestaunt, bewundert und hoffentlich auch entschlüsselt werden. Denn nicht jedem heutzutage sind die Propheten und Personen aus dem Alten und Neuen Testament wie David und Samson oder Kajaphas und Pontius Pilatus noch ein Begriff. Vor allem wenn sie vom Maler mit sehr viel Fantasie eingekleidet wurden: So trägt der römische Statthalter hier doch tatsächlich einen Turban. Das ist aber nicht die einzige Überraschung, die in dieser gemalten Leidensgeschichte Jesu mit ihrer wechselvollen Geschichte steckt.
Zum Verständnis muss man etwas weiter ausholen. Fastenzeiten kennen alle Religionen. Jom Kippur ist der große Versöhnungs- und Fastentag der Juden. Muslime verzichten während des 30-tägigen Ramadans zwischen Sonnenauf- und -untergang auf Essen, Trinken und Rauchen. Gläubige Christen fasten 40 Tage lang von Aschermittwoch bis Ostern. Diese Übungen fallen heutzutage unterschiedlich aus: kein Zucker, keine Butter, kein Alkohol, keine Plastikverpackung – alles ist möglich. Im Gegensatz zu den sehr körperbetonten, oft fragwürdigen Entschlackungsdiäten einer säkularen Wohlstandsgesellschaft verfolgt das Fasten aus religiösen Gründen vor allem geistige Ziele, wie die Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen.
Eine Einladung zum Dialog
So visualisiert das aktuelle bundesweite Misereor-Fastentuch des Nigerianers Chidi Kwubiri das afrikanische Sprichwort „Ich bin, weil du bist“. Das Bild soll als eine Einladung zum Dialog mit anderen verstanden werden, vor allem vor dem Hintergrund der Probleme durch die Globalisierung. Seit Misereor 1976 die alte Tradition der Fasten- oder Hungertücher wiederbelebt hat, werden sie mit aktuellen Inhalten verknüpft. Geblieben ist aber der Brauch, dass sie den Altar verhüllen, der oft durch seine kunstvolle Gestaltung den Blick des Gottesdienstbesuchers fesselt – und ablenkt.
Auch das Auge soll fasten! Das war im Mittelalter ein Gebot, und so verhängte man zunächst den Altar mit einem schmucklosen Leinentuch. Doch diese visuelle Askese verlor an Bedeutung, und die Tücher wurden immer häufiger mit Szenen der Passionsgeschichte bemalt. Als Biblia pauperum, also eine Bibel für die Armen, brachten die Bilder das Leiden Jesu Christi auch jenen Menschen nahe, die als Analphabeten nicht selbst in der Heiligen Schrift lesen konnten. Vor allem unter dem Eindruck der vielen Pilgerfahrten nach Jerusalem entstanden dann auch viele Heilige Gräber, ob als freistehendes Bauwerk wie zum Beispiel die berühmte Mauritius-Rotunde in Konstanz, als Wandnische mit lebensgroßen Personengruppen oder als Kulissen aus bemalten Holztafeln und Leinwänden wie in Altshausen und eben in Dietenheim. Während jedoch das Heilige Grab von Altshausen Karl Patz, Vorsitzender des Kirchengemeinderats
das ganze Jahr über besucht werden kann, ist man in Dietenheim sparsamer mit der Präsentation: Knapp drei Wochen vor Ostern wird es aufgebaut. Am Karsamstag kommt es wieder unter das Kirchendach und wird dort konservatorisch korrekt verwahrt. Denn mittlerweile weiß man um die kunsthistorische Bedeutung dieses immensen Andachtsbildes, das 1727 von Graf Franz Adam Fugger und seiner Frau Maria gestiftet und von dem nach Dietenheim zugewanderten Südtiroler Künstler Franz Xaver Forchner aus Sterzing gemalt worden war.
Allerdings gingen der jährliche Auf- und Abbau sowie die frühere unsachgemäße Aufbewahrung an die Substanz: 1872 nahm sich deshalb der Maler Zeller jun. des ForchnerWerks an. Er beließ es aber nicht beim Auffrischen der Farben, sondern verewigte sich durch sehr großzügige Übermalungen. So trägt der Hund zu Füßen von Kajaphas die Gesichtszüge des „Eisernen Kanzlers“Otto von Bismarck – aufs erste irritierend, aber nicht ganz abwegig in Zeiten des Kulturkampfs.
Auch die Historische Bürgerwehr und die Stadtkapelle von Dietenheim tragen eine Infanterieuniform aus dem Jahr 1870, allerdings eine bayerische. So marschierten sie im Gleichschritt und unter Trommelklang in die Kirche ein, als Gemeindepfarrer Gerhard Bundschuh am Sonntag, 11. März, sein 40-jähriges Priesterjubiläum feiern konnte. Helm ab zum Gebet! Die Kirche mit dem tags zuvor wieder aufgebauten Heiligen Grab war auch brechend voll.
Aber Bundschuhs Heilig-GrabFührung an diesem Festtag war ebenfalls sehr gut besucht. Für die einen ist es immer wieder erhebend, sich in das acht mal neun Meter große und vier Meter tiefe Kunstwerk hineinzudenken. Neulinge wiederum erstaunt das große Engagement der Kirchengemeinde. Da sind zum Beispiel die 25 sogenannten HeiligGrab-Juden, wie man schon immer jene Männer nennt, die für den Aufund Abbau zuständig sind. „Drei Generationen sind daran beteiligt“, erzählt der Geistliche. Und der 66 Jahre alte Josef Dambacher schildert nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht, wie er gerne über die Balken streicht, die sein Großvater als Zimmermann einst für das renovierte Grab zugeschnitten hat. Auch er ist selbstverständlich ein Heilig-Grab-Jude. „Das ist eine Ehre“, sagt er und hofft, dass er eines Tages dieses Amt an einen Nachkommen weitergeben kann.
Wie lange dauert der Aufbau? „Einen Tag und ein Vesper“, antwortet spontan Pfarrer Bundschuh. Dambacher justiert etwas nach: „Drei Stunden Gemeindepfarrer Gerhard Bundschuh
und ein Vesper“– also noch weniger, obwohl der eigens angeschaffte Elektromotor versagt hatte und man die Kulissen wieder von Hand hochkurbeln musste. Insgesamt 49 Tafeln, Leinwände und Figuren sind exakt zu platzieren. Dabei wird weder gebohrt noch genagelt, sondern nur angebunden. Zwei Dutzend elektrisch beleuchtete Glaskugeln sorgen für strahlenden Glanz. „Sie stellen die Edelsteine dar, die üblicherweise die kostbaren Monstranzen zieren“, erklärt der Geistliche.
Doch zunächst geht der Blick hinauf zum ersten Bild. Es wird mit einem Regenbogen abgeschlossen, als Zeichen des Bundes Gottes mit den Menschen nach der Sintflut. Da ist die Arche Noah zu sehen, das Kreuz mit der Friedenstaube, und in der Mitte Gottvater und sein Sohn, der durch seinen Kreuzestod die Sünden der Welt auf sich genommen hat. „Er gab sein Leben hin als Preis der Erlösung“. (Mt. 20, 28). Dieser Spruch ist eines von vielen lateinischen Zitaten auf den Bildern. Dann sind da Engel: Michael wiegt die Seelen, einer löscht die Flammen auf der Weltkugel, ein weiterer bedeckt den Teufel mit einem weißen Tuch, weil dessen Macht durch Jesu Tod gebrochen ist. Glaube und Hoffnung in Form von Frauengestalten und die Liebe als Herz auf dem Kreuz als Zeichen der christlichen Tugenden sind auch zu entdecken. Bei genauer Betrachtung fällt allerdings auf, dass der Pelikan als Symbol für Christus nur noch halb zu sehen ist. Sein Kopf verschwindet unterm Himmelsbogen, weil beim Neubau des Chores 1925/ 25 – er war durch die Illerbegradigung baufällig geworden – die Höhe des Heiligen Grabes nicht korrekt bemessen wurde.
Ein Spiel mit Dimensionen
Aber das ist eine Kleinigkeit, die wohl den wenigsten Betrachter ins Auge sticht. Was allerdings auffällt, ist zum einen das Spiel mit den optischen Dimensionen sowie die Farbenpracht und der gute Zustand des Werkes. Das kommt nicht von ungefähr. Vor zwei Jahren wurde es fachgerecht restauriert – für rund 50 000 Euro. Dank großzügiger Spenden konnte die Gemeinde die Kosten stemmen. Bereits 1977/78 hatte man das Heilige Grab ausbessern müssen, denn es war wegen der Liturgiereform 1955 über 20 Jahre nicht mehr aufgebaut und – schlimmer noch – unsachgemäß gelagert worden.
Diese Zeiten sind vorbei, jetzt dürfen die Gläubigen wieder sehen und mitleiden, wie Jesus verhört, geschlagen und gekreuzigt wird. „Warum strickt Pilatus?“, fragen Kinder immer wieder. „Er strickt nicht, er bricht den Stab über Jesus“, erklärt Pfarrer Bundschuh dann und transportiert Bild für Bild das biblische Heilsgeschehen aus der Barockzeit in das Hier und Jetzt. Eine anrührende Lektion in Bibelwissen. Die Kirche ist tagsüber offen und lädt zum Besuch ein. „Sogar Gäste aus Hawaii habe ich schon geführt“, sagt Karl Patz, der Vorsitzende des Kirchengemeinderats und – natürlich auch ein Heilig-Grab-Jude.
„Sogar Gäste aus Hawaii habe ich schon geführt.“
„Drei Generationen sind daran beteiligt.“