Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Gefahr der Johannisbeerschorlerisierung
Seit Menschen nicht mehr ihrem natürlichen Hang zum Genuss nachgehen, sondern der Selbstoptimierung in den Olymp der persönlichen Perfektion folgen, hat sich die Kultur des Feierabendgetränks grundlegend verändert. Alkohol spielt folgerichtig keine Rolle mehr. Während früher niemand etwas dagegen hatte, dass ein braver Arbeitnehmer zum Mittagessen ein Achtel Weißweinschorle genießt, muss er heute mit Ächtung rechnen, wenn er zum Dessert auch nur ein „Mon Chéri“im Mund verschwinden lässt. Und jeder, der aus Anlass seines Geburtstags einen Eierlikörkuchen für seine Kollegen ins Büro mitbringt, ist fällig für ein Gespräch mit dem betrieblichen Suchtbeauftragten.
Die Verdrängung alles Alkoholischen hat dazu geführt, vermeintlich unschuldigere Getränke in den Vordergrund zu rücken. Prominentestes Beispiel ist die Johannisbeerschorle, ohne die eine Feierabendzusammenkunft nicht mehr denkbar ist. Auch Damenrunden, die zum Zwecke der Leibesertüchtigung mit Skistöcken durch die schneefreien Einfamilienhaussiedlungen unseres Landes ziehen, bestellen Johannisbeerschorle, wenn sie’s mal so richtig krachen lassen wollen.
Warum ausgerechnet Johannisbeere das Getränk der Stunde ist, bleibt rätselhaft. Denn als Obst ist sie ähnlich ungenießbar wie Vogelbeere und flüssig nur mit reichlich Zucker trinkbar. Der reine Saft eignet sich – ähnlich dem Terpentin – nur zur Entfernung von Lackresten. Ob eine solche Substanz den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann, wie weiland das Feierabendbier, glauben wir jedenfalls nicht. (nyf )