Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Von einem jungen Kranich, der nicht ziehen möchte
Der junge Charly bleibt seinen menschlichen Zieheltern treu – die darüber nicht sonderlich glücklich sind
GREIFFENBERG (dpa) - Für Charly wird es höchste Zeit. Zu Tausenden kehren seine Artgenossen aus den Winterquartieren in Spanien und Frankreich nach Brandenburg zurück. Im Gegensatz zu ihnen hat der zehn Monate alte Kranich die kalte Jahreszeit in der Uckermark verbracht, bei Beate Blahy und Eberhard Henne in der Nähe von Greiffenberg. Inzwischen ist das idyllisch gelegene Gehöft von laut rufenden Kranichen umgeben – doch Charly denkt gar nicht daran, sich ihnen anzuschließen.
„Er fliegt hoch über das Haus, kreist dort. Wenn er aber merkt, dass wir ihm nicht folgen, kommt er schnell zurück“, sagt der pensionierte Tierarzt Henne. Am 10. Mai war das damals etwa 200 Gramm schwere Kranichküken in seine Obhut gekommen. Naturschützer hatten es an einem Müllplatz gefunden, die Suche nach den Elterntieren war erfolglos geblieben.
„Charlys untypisches Verhalten zeigt, dass er viel zu früh von seinen Eltern getrennt worden sein muss. Denn die prägen die Jungvögel in den ersten Lebenstagen“, sagt Henne, einst Umweltminister in Brandenburg. Der inzwischen etwa viereinhalb Kilogramm schwere und mehr als einen Meter große Schreitvogel sei eindeutig auf Menschen fixiert. Fährt der 74-Jährige mit dem Auto los, fliegt Charly hinterher. Mit einer Flügelspannweite von gut zwei Metern bietet er einen imposanten Anblick. Angst vor Autos kennt er nicht, Radfahrer wirken auf ihn „wie ein Magnet“, so Tierarzt Eberhard Henne.
„Der Jungvogel sieht sich selbst nicht als Kranich“, vermutet Christiane Schröder, Geschäftsführerin des Brandenburger Naturschutzbundes (Nabu). Wildtiere aus der Natur zu entnehmen, um ihr Leben zu retten, sei immer ein Risiko. Grundsätzlich gelte für jeden noch so tierlieben Laien: „Lasst junge Wildtiere in der Natur. In der Regel sind sie nicht verwaist. Wir sehen die Elterntiere nicht, sie aber uns.“
Nicht nur für Charly selbst wäre es besser, er fände Anschluss an seine Artgenossen: Mit etwa zwei Jahren sind Kraniche geschlechtsreif. „Und dann werden sie meist aggressiv, verteidigen ihr Revier und greifen auch Menschen an“, erklärt Biologin Blahy.
Hoffnung schöpft die 62-Jährige, weil ihr Zögling nicht länger im Stall, sondern häufiger im Freien übernachten möchte. Zudem weiß der junge Kranich inzwischen, dass er sich vor Fuchs und Seeadler in Acht nehmen muss. Und er sucht sich seine Nahrung selbst: kleine Spinnen und Insekten findet er lecker – und das Futter der Hühner.