Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Heimspiel
Martin Walser hat in Weingarten seinen Roman „Gar alles“vorgestellt
WEINGARTEN - Wenn Martin Walser in Oberschwaben liest, dann ist das quasi ein Heimspiel. Das Publikum im gut besetzten Kultur- und Kongresszentrum in Weingarten begrüßte den Schriftsteller wie einen lieben alten Bekannten, der mal wieder auf Besuch kommt. Nach der Lesung, wenn die Besucher anstehen, um sich den neuesten Roman vom Autor signieren zu lassen, sieht man manches Schulterklopfen, einen freundschaftlichen Händedruck. Man kennt sich.
Souverän wie stets gestaltet Walser die Lesung. Die Gebresten des Alters – inzwischen nimmt der 91-Jährige beim Gehen einen Stock zu Hilfe – sind wie weggeblasen, sobald er am Pult steht. Unverkrampft beginnt er zunächst mit einer Anekdote. Er habe kurz vorher seinem Kollegen und Freund Arnold Stadler, den er zur Lesung erwartete, eine SMS geschickt: „Du sitzt neben Käthe“, habe er geschrieben. „Doch Käthe kennt der Apparat nicht. Da stand: Du sitzt neben Goethe.“
Die Pointe sitzt schon mal, aber das wird nicht die einzige bleiben an diesem Abend. Die Auswahl der gelesenen Passagen ist – was sonst – mit Bedacht gewählt. So bekommen auch die, die das Buch „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“nicht kennen, einen Eindruck von der Liebes- und Leidensgeschichte der Hauptfigur: Die unterzeichnet die E-Mails an die virtuelle Partnerin mit Justus Mall, Philosoph. Doch das ist ein Pseudonym, hinter dem sich Oberregierungsrat Dr. Gottlieb Schall verbirgt. Der hatte sich neu erfinden müssen, nachdem sich eine junge Dame, Praktikantin bei der Zeitung, von ihm sexuell belästigt fühlte. Schall steht stellvertretend für die „Grapscher aus der Altherrenriege“. Walsers Kommentar zur MeToo-Debatte löste allgemeine Heiterkeit aus.
Aktuell gibt es zwei Neuerscheinungen über Martin Walser. Wolfgang Herles und Siegmund Kopitzki haben unter dem Titel „ Der erste unserer Sprachmenschen“im Südverlag einen Sammelband ( 20 Euro) mit allen wissenschaftlichen Beiträgen des Walser- Kolloquiums zum 90. Geburtstag herausgegeben.
Rowohlt legt einen dicken Band ( 576 Seiten) mit Interviews von Martin Walser aus den Jahren 1978 bis 2016 vor. Herausgeberin ist Thekla Chabbi. ( 20 Euro).