Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Tag und Nacht für die Arbeit
Flexiblere Arbeitszeiten: Experten warnen vor Aufweichung der Schutzrechte
BERLIN - Wieder einmal dauert der Arbeitstag für Tim eine Stunde länger als geplant. Vergütet wird dem Mittdreißiger die Überstunde nicht. „Das wird von uns erwartet“, sagt der Softwareentwickler, der für ein kleines Unternehmen tätig ist. Immerhin heißt Feierabend bei ihm dann tasächlich, dass er weder Mails beantworten oder Anrufe entgegennehmen muss. Denn diese Praxis ist mittlerweile weit verbreitet. Einer Studie des Instituts „Zukunft der Arbeit“(IZA) zufolge zwacken Arbeitnehmer durchschnittlich fünf Stunden in der Woche von ihrer Freizeit für dienstliche Aufgaben ab. Fast zwei Drittel der Beschäftigten sind von dieser Vermischung von Freizeit und Arbeit betroffen.
Feste Arbeitszeiten „von acht bis fünf“sind anscheinend ein Auslaufmodell. Laut IZA hat jeder fünfte Arbeitnehmer flexible Einsatzzeiten. Bei jedem siebenten Beschäftigten ist mittlerweile Heimarbeit Teil des Berufsalltags. Dazu kommen noch viele unterschiedliche, auf die Bedürfnisse des Betriebs zugeschnittene Arbeitszeitmodelle wie beispielsweise der im Einzelhandel verbreitete Teilzeitjob.
Die Flexibilisierung kann Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugutekommen, wie zwei ungewöhnliche Tarifabschlüsse der vergangenen Jahre zeigen. Bei der Deutschen Bahn konnten sich Beschäftigte erstmals zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit entscheiden. Und die IG Metall hat eine Option für eine 28-StundenWoche über einen Zeitraum von zwei Jahren durchsetzen können, wenn Arbeitnehmer etwa für die Pflege Angehöriger mehr Zeit benötigen. „Flexibilität ist nicht länger ein Privileg der Arbeitgeber“, sagte Gewerkschaftschef Jörg Hofmann hernach.
Doch zeigt sich längst ein Riss, der die Erwerbstätigen in zwei Lager teilt. „Hochqualifizierte haben häufiger eine selbstbestimmte Arbeitzeit als Geringqualifizierte, Männer eher als Frauen“, sagt die Arbeitszeitexpertin der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung, Yvonne Lott. Diese Beobachtung deckt sich mit den Erkenntnissen des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB). „Selbstbestimmte Arbeitszeiten gibt es vor allem bei Hochqualifizierten“, erläutert dessen Experte Enzo Weber. Lott zufolge gibt es auch ein Gefälle zwischen den Branchen. In männerdominierten Berufen fänden sich selbstbestimmte Arbeitszeiten eher als in frauendominierten. Woran dies liegt, ist noch nicht ausreichend erforscht.
Verlierer: Frauen in Teilzeit
Auf der anderen Seite finden sich die Verlierer der Flexibilisierung. Dazu gehört zum Beispiel ein großer Teil der Teilzeitbeschäftigten. Vor allem die Frauen in Teilzeit wollen häufig mehr arbeiten als sie laut Vertrag dürfen. Das ergab eine Studie des vom Bildungsministerium geförderten Instituts Soeb. Das IZA wiederum fand heraus, dass mit mehr Selbstbestimmung ein höheres Maß an Verantwortung einhergeht, was ein Teil der Arbeitnehmer gar nicht will. Verlierer sind schließlich jene Beschäftigten, die sich gegen eine Verschiebung ihrer Arbeit in die Freizeit gar nicht wehren können, etwa weil es im Unternehmen üblich ist.
Mit einer weiteren Globalisierung und Digitalisierung wächst nach Einschätzung der Wirtschaft auch der Bedarf an flexiblen Arbeitszeiten. Eine neue Debatte um Höchstarbeitszeiten oder Ruhepausen ist längst im Gange. Beides ist gesetzlich geregelt. Es gilt ein höchstens acht, maximal zehn Stunden langer Arbeitstag, eine maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden und eine elfstündige Ruhepause zwischen zwei Schichten. Ausnahmen gibt es nur wenige, etwa für Bereitschaftsdienste oder die Landwirtschaft. Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hält diese strikten Normen für ein „Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert“. Der Ökonom plädiert dafür, die Gestaltung der Arbeitszeiten statt dem Gesetzgeber verstärkt den Tarifpartnern zu überlassen.
Eine Aufweichung der Bestimmungen halten Gewerkschafter dagegen für gefährlich. „Geringere Ruhezeiten gehen zulasten der Gesundheit“, warnt Böckler-Expertin Lott. DGB-Vorständin Annelie Buntenbach fordert sogar einen besseren Schutzrahmen. „Viele Untersuchungen zeigen, dass Beschäftigte immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit erledigen müssen und das oft nicht in der vereinbarten Arbeitszeit zu schaffen ist“, kritisiert Buntenbach. Arbeit in der Freizeit sei eine Folge des Leistungsdrucks und nur selten freiwillig. Arbeitszeiten müssten insgesamt, also auch im Home Office oder bei mobiler Arbeit, vollständig erfasst und vergütet werden. Beschäftigte bräuchten einen umfassenden Schutz ihrer Gesundheit. „Da wäre es kontraproduktiv“sagt die DGB-Vize, „das Arbeitszeitgesetz zu öffnen.“