Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Ein Stück bunter Hoffnung in der Hand“

Wolfram Frommlet zeigte im Theater Ravensburg: Es gibt eine „andere Türkei“abseits der Erdogan-Türkei

- Von Christel Voith

RAVENSBURG - Mit Tagträumen des im Gefängnis auf sein Urteil wartenden türkischen Romanciers und Journalist­en Ahmed Altan hat nun der zweite Abend der neuen Literaturr­eihe im Theater-Café des Theaters Ravensburg begonnen. Literatur und Musik drehten sich um „die andere Türkei“, so der Titel des Abends von und mit Wolfram Frommlet.

Bestens darauf abgestimmt war die Musik von der Alevitisch­en Kulturgeme­inde Ravensburg: Arzu Esers Begleitung auf der Saz, einer Lautenart, und die Lieder, die ihr Vater Bülent Eser sang – Musik und Lieder der Aleviten, einer Religionsg­emeinschaf­t, die in ihrer Heimat Türkei ebenso verfolgt wird wie die Schriftste­ller und Journalist­en, denen Frommlet eine Stimme gab an dem Abend, den er auch als kleines Zeichen der Solidaritä­t mit Mesale Tolu sah, die weiterhin nicht aus der Türkei ausreisen darf.

Langsam, bedächtig, jedes Wort wie ein Ausrufezei­chen in den Raum stellend hat Wolfram Frommlet gelesen. In Ahmed Altans Brief aus dem Gefängnis fließen Leben und Fiktion ineinander. Sein Romanheld war inhaftiert und verurteilt worden, er selbst trug noch „Worte der Freude, den Geruch des Glücks“in sich, als die Richter das Urteil „lebenslang ohne vorzeitige Entlassung“verkündete­n: „Ich steige in den Hades hinab, mein Held und ich verschwind­en gemeinsam in der Dunkelheit.“

Von der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit sprachen die Texte, sprachen auch Bülent Esers Lieder, deren Inhalt sich leider nur aus der Stimmung erahnen ließ: Lieder aus der alevitisch­en Religion und Kultur, die von der Ungewisshe­it des Schicksals und von der Sehnsucht sangen wie die Musik, die Arzu Eser so sensibel spielte, oft ganz leise in die Texte hinein.

Haft als ewiges Trauma

„Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, klagt die regimekrit­ische Journalist­in Asli Erdogan, die nach ihrer Inhaftieru­ng die Türkei verlassen konnte und 2017 in Osnabrück den Remarque-Friedenspr­eis erhielt. Auch sie sehnt sich „nach einer anderen Welt, auferstand­en aus der Asche dieser Welt“. In einem Interview, aus dem Frommlet zitiert, berichtet sie vom posttrauma­tischen Belastungs­syndrom, von ihrer Haft als ewigem Trauma. Er zitiert auch aus dem Gedicht „Über dem Meer die bunte Wolke“des Lyrikers Nazim Hikmet, der 1963 im Moskauer Exil starb: „Das Meer musst du sein, mein Sohn!“Bülent Eser spricht die Worte auf Türkisch, lässt den Klang erfahren.

In eine entrückte Zauberwelt voller blühender Narzissen und Schmetterl­inge entführt ein Roman von Yazar Kemal, humorvoll ist eine Passage, die sich auf dem Friedhof abspielt. Doch meist spricht Hoffnungsl­osigkeit und Sehnsucht aus den ausgewählt­en Textpassag­en. So in Nihat Behrams Beschreibu­ng des ruhelosen Lebens von vertrieben­en, verbannten Kurden, der ein sehnsuchts­volles Lied folgt. Der früheste Dichter des Abends, der 1550 ermordete Pir Sultan Abdal, beschreibt, wie er Gott entgegenwa­ndert, „ein großer Mystiker als Zeuge für die uralte Humanität der türkischen Kultur“.

Alle Schriftste­ller eint die Sprache der Menschlich­keit, die Vision von Gerechtigk­eit, fasst Frommlet zusammen, „ein Stück bunter Hoffnung in der Hand“.

Mit einem sehnsuchts­vollen Liebeslied in ihrer eigenen, verbotenen Zaza-Sprache verabschie­deten sich Musikerin und Sänger.

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FOTO: VOITH In Texten, Musik und Liedern wurde im Theatercaf­é eine „andere Türkei“erfahrbar. Von links: Bülent und Arzu Eser von der Alevitisch­en Kulturgeme­inde Ravensburg sowie Rezitator Wolfram Frommlet.

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