Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Nein zu Dickmachern
Ärzte fordern von Bundesregierung Maßnahmen gegen ungesunde Ernährung
BERLIN - Der Mediziner und TVPromi Eckart von Hirschhausen, mehr als 2000 seiner Ärztekollegen, die Deutsche Diabetes Gesellschaft, die Verbraucherorganisation Foodwatch sowie der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte wollen den Deutschen das Leben erleichtern – und den Kampf gegen zu viele Kalorien aufnehmen. Sie fordern jetzt eine Zuckersteuer, zum Beispiel auf Cola und andere gesüßte Getränke, Standards für gesünderes Essen in Schulen und Kitas, Werbeverbote für Kinderprodukte wie Schokoriegel und eine verständliche Kennzeichnung von Lebensmitteln.
In einem offenen Brief haben sie am Mittwoch die „sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin“, Minister und Parteichefs aufgerufen: „Bitte machen Sie ernst mit der Vorbeugung gegen Fettleibigkeit, Diabetes und andere chronische Krankheiten.“Appelle dieser Art gab es schon häufiger, aber noch nie schlug ein so breites Bündnis Alarm.
Denn Deutschland wird dick. Die Verfasser des Briefs berufen sich auf Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Danach gelten bei den Erwachsenen zwei Drittel der Männer und gut jede zweite Frau als übergewichtig oder adipös, also fettleibig. Dabei kommt kaum einer übergewichtig auf die Welt. Probleme tauchen aber schon in jungen Jahren auf: 15 Prozent aller, die heute im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind, leiden an Übergewicht oder Fettleibigkeit. Im Vergleich zu den 1980er- und 1990er-Jahren hat damit der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher um 50 Prozent zugenommen, der Anteil fettleibiger sich sogar verdoppelt. So drohen Bluthochdruck, Probleme mit Herz, Kreislauf, auch den Gelenken sowie Diabetes.
Derzeit leben in Deutschland 6,7 Millionen Menschen mit Diabetes Typ 2, dem sogenannten Altersdiabetes, der mittlerweile schon bei Kindern diagnostiziert wird. Die Betroffenen leiden, alle zahlen, die Folgen sind enorm. Fettleibigkeit und Diabetes führen laut Schätzungen zu 98 Milliarden Euro Gesamtkosten im Jahr.
Hohe Gewinnmargen bei Süßem
Dicke seien aber nicht selbst schuld am Übergewicht, meint der Arzt von Hirschhausen: „Kinder und Erwachsene sind doch heute nicht dümmer oder willensschwächer als Menschen früher.“Das Leben habe sich jedoch geändert. So seien Schüler früher mit dem Rad zur Schule gefahren, heute würden sie mit dem Auto gebracht. An der Tankstelle habe es früher Benzin gegeben, aber nicht wie heute Schokoriegel, Gummibärchen, Knabberzeug.
Er hat gerade ein Experiment gemacht. Für seine TV-Sendung hat er Kinder in den Supermarkt geschickt. Sie sollten Lebensmittel kaufen, die extra für Kinder angeboten werden. Die seien mit einem Einkaufswagen voller Lebensmittel zurück gekommen, die zumeist der Kategorie Süßigkeiten zuzuordnen gewesen seien, erzählt von Hirschhausen.
Er sagt: „Die Kalorien hätten ausgereicht, um ein Kind drei Wochen zu ernähren, allerdings schlecht.“Nur sei das ein gutes Geschäft. Die Kinder hätten für den Einkauf 100 Euro gezahlt, der Zucker, der darin steckt, habe aber nicht einmal zwei Euro gekostet, erklärte von Hirschhausen. Mit Joghurt, in dem Schokochips stecken, und zuckrigen Frühstücksflocken lasse sich gutes Geld verdienen.
Oliver Huizinga von Foodwatch sagt es so: „Die Gewinnmarge bei Süßigkeiten ist dreimal so hoch wie bei Obst und Gemüse.“Nicht der Wirtschaft sei ein Vorwurf zu machen, dass sie diese Gewinne machen wolle. Die Regierung dürfe das aber nicht so laufen lassen.
Zwar versprechen immer mehr Einzelhändler wie Aldi, Lidl, Rewe, die Rezepturen ihrer Waren zu verändern und den Zuckergehalt in den nächsten Jahren zu mindern, doch bleibt das alles freiwillig. Sie bräuchten auch „keine Belehrungen von Interessengruppen“, erklärt Christoph Minhoff vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, dem Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft. Andere Länder nehmen jedoch längst die Hersteller in die Pflicht. Jüngstes Beispiel ist Großbritannien. Dort gibt es seit Anfang April diesen Jahres eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke. Je süßer der Softdrink, umso mehr muss der Hersteller zahlen. Schon haben Firmen reagiert und den Gehalt an Zucker gemindert.
Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) allerdings warnte bereits: „Es klingt einfach und verlockend, eine zusätzliche Steuer für Fertigprodukte in unserem Land zu erheben.“So sinke vielleicht der Zuckergehalt in manchen Produkten, aber nicht automatisch der Gesamtkaloriengehalt (siehe Kasten). Im Fokus solle daher die gesamte Lebens- und Ernährungsweise stehen, nicht der einzelne Nährstoff. Sie setze zudem auf Ernährungsbildung über gesundes Essen.
Nur verbindliche Vorgaben helfen
Mit Ernährungsbildung allein sei es auf keinen Fall getan, meinen die Verfasser des offenen Briefes, den unter anderem auch Krankenkassen wie die AOK und die Techniker, die Diakonie Deutschland oder die Bundeszahnärztekammer mittragen. Sie verweisen auf den Kampf gegen das Rauchen. Da habe es nur mit Hilfe „verbindlicher Vorgaben“Erfolge gegeben.
„Politisch wird gestritten, privat zugenommen“, resümiert von Hirschhausen. Dabei bleibe eine Limo immer noch süß, wenn nur halb so viel Zucker drin sei. „Und niemand wird etwas vermissen. Wetten?“, sagt er.