Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Europäische Paarzerfleischung
Das Stuttgarter Schauspiel beschäftigt sich in einem Festival mit der Zukunft Europas
STUTTGART - Dass im Stuttgarter Schauspiel vergangene Woche besonders viel los war, hatte mit dem Theaterfestival „The Future of Europe“zu tun, das in Redebeiträgen, Podiumsdiskussionen und Inszenierungen die Gegenwart und Zukunft Europas verhandelte. Die Gasttheater waren unter anderem aus Barcelona, Mailand, Athen, Thessaloniki und Lyon nach Stuttgart gereist, um bereits existierende Theaterarbeiten vorzustellen. Am Freitagabend präsentierten sie unter dem Titel „6 x 20 - A Trip Through Europe“ein Panorama des Nachdenkens über eine Europäische Union am Scheideweg.
Wenn das Weltgeschehen und die Theaterkunst parallel zur Gipfelstürmerei neigen, ist das in der Regel nicht geplant. Am vergangenen Wochenende wollte es der Zufall, dass in Stuttgart das Staatsschauspiel einen europäischen Gipfel feierte, während die Europäische Union auf dem kanadischen G7-Gipfel einmal mehr darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sie geschlossen auf die einseitige Twitterpolitik des US-Präsidenten Donald Trump reagieren sollte. Wie das mit der EU ausgehen wird, weiß niemand. Dass das Stuttgarter Festival die Kraftanstrengung wert war, die es dem Staatsschauspiel abverlangt hatte, stand dagegen fest.
Jeweils 20 Minuten Spielzeit
„6 x 20 – A Trip Through Europe“war während des fünftägigen Europaspektakels so etwas wie ein Zeichen der bedingungslosen Einigkeit. Die beteiligten Theater beschränkten sich auf jeweils 20 Minuten Spielzeit und ließen zu, dass der scheidende Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras für den Abend verantwortlich war. Petras sorgte dafür, dass sich alles reibungslos fügte. Auf die künstlerische Qualität der einzelnen Beiträge hatte er keinen Einfluss, was zur Folge hatte, dass der Abend mit „EUpheMythos“des Teatre Nacional de Catalunya eher rumpelnd startete. Man verstand, dass es im Nationaltheater aus Barcelona durchaus Anhänger separatistischer Begehrlichkeiten gibt, der künstlerische Ertrag hielt sich allerdings in Grenzen.
Die Katalanen beschäftigten sich einmal mehr mit dem antiken Gründungsmythos der schönen Königstochter Europa, die an der östlichen Mittelmeerküste Blumen sammelt und vom als Stier getarnten Zeus entführt und begattet wird. Dass die Gründung Europas auf einer Vergewaltigung beruht, ist ein kulturgeschichtlicher Allgemeinplatz und in etwa so aussagekräftig wie der zweite Beitrag des Abends: „Domestizierung“des National Theater of Greece. Die Athener kreuzten die antike Historie mit Untiefen des heutigen Flüchtlingselends. Es gab Stimmen aus dem Off, die offensichtlich von in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen stammten. Dazu sprachen zwei Schauspieler Partikel eines klassischen Textes, der von der Zerstörung Milets und vom Beginn der Perserkrieg ab 494 vor Christus handelte. Was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte, blieb unklar.
Nach dem ersten Drittel des kaleidoskopischen Europaabends wurde die Bühne aber dann doch noch zu einer „Dialogplattform“, wie in der Ankündigung des Festivals zu lesen war. Dass Theaterkünstler mit ganz eigenen Mitteln über europäische Grundsatzfragen nachdenken können, zeigte das Piccolo Teatro di Milano mit einem Beitrag, der als Liebesgeschichte zwischen einem Mann aus dem Norden und einer Frau aus dem Süden anfängt. Immer mehr wird aber auch das wirtschaftliche NordSüd-Gefälle thematisiert, das Italien und die EU zu zerreissen droht.
Das war geschickt gemacht und zeigte mit einfachen dialogischen Mitteln, dass in Europa nun mal ganz unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinanderprallen. Dass die Zukunft Europas in den Händen derjenigen liegen wird, die als einzige die Zukunft gestalten können, thematisierten die Gastgeber. Das Stuttgarter Schauspiel überließ die Bühne dreizehn Kindern und Jugendlichen, die auf das Angebot mit einer frischen Befragung der Zukunft Europas reagierten. In „Sterntaler“regneten nicht Euros vom Himmel, sondern Briefe, in denen die Kinder und Jugendlichen davon unterrichtet werden, wie unvorhersehbar die Zukunft Europas sich gestalten könnte.
Und dann war da noch das Théâtre du Lyon mit „Birgit – EU Garantie“, in der das prickelnde europäische Elend dialogisch auf eine Paarbeziehung heruntergebrochen wird. Ein Mann und eine Frau verlieren sich in Machtspielen und immer mehr ist da auch der Verdacht der Frau, ihr Mann betrüge sie. Hat der etwa was mit jener Birgit aus Deutschland, von der man irgendwann nicht mehr genau weiß, ist das nun eine Bekannte des französischen Ehepaares oder eine jener deutschen Waschmaschinen, die auch dann noch schmutzige Wäsche waschen werden, wenn Europa längst eine Etappe der Erdgeschichte gewesen sein wird. Der Autor Rémi de Vos hat so anspielungsreiche und treffende Dialoge geschrieben, dass man gerne eine Fortsetzung der europäischen Paarzerfleischung sehen würde.