Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Auf Beerenjagd

22-jähriger Gärtner und seine Mitstreite­r ernten Früchte, für die sich niemand interessie­rt

- Von Lena Müssigmann

WEINGARTEN - Fast 50 Kilo Obst haben Jannik Pietrek und seine „Beerenjäge­r“in diesem Sommer geerntet - ohne einen Euro dafür zu bezahlen. Sie suchen Bäume und Sträucher, die sonst niemand aberntet. Und finden welche. Viel häufiger, als sie erwartet hätten. Hinter der Beerenjagd steht für sie eine große Idee.

Mit den Walderdbee­ren im Schreberga­rten von Pietreks Vater hat alles angefangen: Weil er keine Zeit hatte, sie zu ernten, hat Jannik ein paar Leute aktiviert. „Wir haben da richtig abgeräumt“, erinnert er sich.

Rettung vor dem Verfaulen

Damit waren die „Beerenjäge­r“geboren. „Man sieht so oft Bäume in der Stadt, wo die Früchte einfach runterfall­en“, sagt Pietrek, 22 Jahre alt und Gärtner. Ihm macht es Freude, die Früchte einzusamme­ln. Für ihn fühle sich das an, als rette er die Mirabellen, Kirschen, Him- und Johannisbe­eren vor dem Verfaulen. „Wir wollen sinnvoll nutzen, was es gibt“, sagt Pietrek.

Inzwischen haben die Beerenjäge­r unter anderem Kirschbäum­e auf dem Parkplatz eines Schnellres­taurants (mit Erlaubnis der Betreiber) abgeerntet. Hinzu kamen Mirabellen, die am Stadtrand Richtung Baienfurt von den Beerenjäge­rn entdeckt wurden, und Beeren der übervollen Sträucher von Pietreks Bekannten. Sie hatten ihn um die Ernte während ihres Urlaubs gebeten. Außerdem kennt Pietrek durch ehrenamtli­che Seniorenbe­treuung alte Menschen, die einen Garten haben, aber nicht mehr ernten können, was dort wächst.

Auch am vergangene­n Wochenende waren die Beerenjäge­r wieder unterwegs, haben Kirschen, Brom- beeren und Mirabellen erbeutet. „Die Mirabellen durften wir nach Anfrage in einem Garten sammeln“, erzählt Pietrek. Er und seine Begleiter hätten einfach an der Tür des Hauses mit Mirabellen im Garten geklingelt. Die Besitzer waren einverstan­den, dass die Gruppe bei ihnen erntet, weil sie selbst schon genug gepflückt haben, wie Pietrek erzählt.

Früchte en masse also – aber was haben die Beerenjäge­r diesen Sommer mit knapp einem Zentner davon gemacht? Marmelade gekocht. Aber eigentlich geht es ihm nicht um Marmelade, sondern um Gemeinscha­ft und Nachhaltig­keit.

Ziel: Begegnung ermögliche­n

Vor zweieinhal­b Jahren hat der 22- Jährige im Berufskoll­eg der Edith-Stein-Schule in einer Projektarb­eit die Vision einer aus seiner Sicht menschlich­eren Gesellscha­ft entworfen. Denn Pietrek war etwas aufgefalle­n: „So viele Menschen sind gestresst, schauen zu Boden, wenn sie auf der Straße unterwegs sind, sind nicht beflügelt, tragen keine Flamme in sich.“Er fragt sich: „Wo gibt es Möglichkei­ten, das Miteinande­r zu leben?“Er schließt sich mit zwei Freunden zusammen, sie nennen sich „Human Community“(Menschlich­e Gemeinscha­ft). Inzwischen zählt er 50 Leute dazu.

Dinge teilen und sich helfen

Die Mitglieder treffen sich alle zwei Wochen sonntags und tauschen sich über ihre Ideen aus, mit denen sie ihrem Gesellscha­ftsideal etwas näher kommen wollen. Dazu gehört es, Dinge zu teilen, sich gegenseiti­g zu helfen. „Es geht immer nur um Geld, es gibt aber auch andere Möglichkei­ten.“Im neu gegründete­n „Human Community Tauschring“machen schon 17 Leute mit, tauschen untereinan­der Gegenständ­e und Dienstleis­tungen aus, die sie mit einer fiktiven Währung bezahlen. Beim Sonido-Festival im Juli im Weingarten­er Freibad hat sich die Gruppe mit einem eigenen Stand den Besuchern vorgestell­t und Aktionen angeboten, die Begegnunge­n ermögliche­n sollen. Was Pietrek besonders gefällt: „Das ist eine Struktur, in der man das Konkurrenz­denken fallen lassen kann. Kooperatio­n statt Konkurrenz.“

Die Beerenjäge­r sind als feste Gruppe aus der „Human Community“entstanden. Mit der Marmelade, die sie aus dem gesammelte­n Obst kochen, sind sie freigiebig. Die Gartenbesi­tzer, bei denen sie kürzlich im Garten ernten durften, haben auch ein Glas bekommen – „und sich riesig gefreut“, sagt Pietrek. Von der bisherigen Jahresernt­e seien noch gut 20 Gläser Marmelade übrig. „Die werden im Tauschring angeboten.“

Die Beerenjäge­r sollen auch nach der Sommersais­on weiterbest­ehen. Im Herbst wollen sie dann Jagd auf Nüsse machen.

Wer Kontakt zu den Beerenjäge­rn aufnehmen will, erreicht sie per E-Mail an humancommu­nity@ posteo. de. Weitere Infos zur Human Community gibt es unter www.humancommu­nity.de

 ?? FOTO: PIETREK ?? Sie pflücken, was sonst niemand haben will: Jannik Pietrek ( Mitte) und zwei weitere Beerenjäge­r bei der Ernte.
FOTO: PIETREK Sie pflücken, was sonst niemand haben will: Jannik Pietrek ( Mitte) und zwei weitere Beerenjäge­r bei der Ernte.
 ?? FOTO: JANNIK PIETREK ?? Allein mit Pflücken ist es nicht getan. Die Früchte müssen auch noch klein geschnitte­n und eingekocht werden.
FOTO: JANNIK PIETREK Allein mit Pflücken ist es nicht getan. Die Früchte müssen auch noch klein geschnitte­n und eingekocht werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany