Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Streit über die Brexit-Marschrichtung
Wie wird er werden, der Brexit? Weich oder hart? Das ist eine Frage, bei deren Beantwortung sich nicht nur die Politiker auf dem Kontinent den Kopf kratzen. In Großbritannien geht der Streit darüber, ob es zu einem klaren Bruch mit Brüssel oder nicht kommen soll, munter weiter, nicht zuletzt in der Regierungspartei der Konservativen – und sogar im Kabinett. Die jüngsten Grabenkämpfe werden zwischen dem Brexit-Minister Dominic Raab und Finanzminister Philip Hammond ausgetragen.
Raab hatte in der vergangenen Woche die erste Tranche von „technischen Anmerkungen“vorgestellt, die demonstrieren sollen, dass die Regierung auf den Fall eines Austritts ohne Abkommen, des sogenannten No-Deal-Brexit, vorbereitet ist. Zwar könnte es kurzfristig zu Verwerfungen kommen, räumte Raab ein, aber langfristig stände Großbritannien auch ohne Austritts- und Handelsabkommen mit der Europäischen Union gut da. Mitnichten, ließ Schatzkanzler Hammond verlauten. In einem Brief an den Finanzausschuss des Unterhauses verwies der Finanzminister auf offizielle Analysen der Regierung, nach denen ein No-DealBrexit das Bruttoinlandsprodukt über die nächsten 15 Jahre um 7,7, Prozent senken würde – was der britischen Volkswirtschaft satte 150 Milliarden Pfund kosten würde. Prognosen des Schatzamts, antwortete Raab am Sonntag süffisant, hätten sich in der Vergangenheit schon oft als falsch erwiesen.
Dabei hatte sich das Kabinett doch schon festgelegt. Im Juli hatte Premierministerin Theresa May ihre Minister zu einer Klausurtagung auf den Landsitz Chequers zitiert, um dort eine gemeinsame Marschrichtung beim Brexit-Kurs festzuklopfen. Der in einem Weißbuch resultierende Chequers-Deal sieht vor, dass Großbritannien zum Teil im Binnenmarkt verbleibt. Man will eine Freihandelszone mit der EU aushandeln, in der Güter und Waren nach den bisherigen Regeln und Bestimmungen gehandelt werden. Das Königreich soll die Freiheit bekommen, bilaterale Handelsabkommen mit Drittländern abzuschließen und eigene Zölle festzusetzen. Eine gemeinsame Freihandelszone für Güter und Agrarprodukte, die Kontrollposten überflüssig macht, würde das Grenzproblem zwischen Nordirland und der Republik Irland lösen. Im Güterverkehr will Großbritannien weiterhin „das gemeinsame Regelwerk“akzeptieren, verbleibt also de facto im Binnenmarkt. Hingegen beim Sektor Dienstleistungen, der immerhin fast 80 Prozent der britischen Volkswirtschaft ausmacht, wollen die Briten künftig eigenen Regeln folgen.
Der Chequers-Deal stellt das Äußerste dar, was an Einigung in der britischen Regierung erreichbar war. Aber auch dafür könnte es keine Mehrheit geben, sollten genügend Fraktionskollegen von May dagegen stimmen. Die „European Research Group“, die Hardliner-Gruppe innerhalb der Konservativen, hat das bereits angekündigt. In diesem Fall wäre vieles möglich: Rücktritt von May, Neuwahlen, womöglich sogar ein neues Referendum, in dem dann das Volk entscheiden müsste, ob es sich wirklich auf den No-Deal-Brexit einlassen will.