Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kein schöner Land
Heimat hat Konjunktur! Was Heimat sei, beschreiben Schriftsteller(innen), Philosophen, Theologen, Lokal- und Kommunalpolitiker(innen) und auch ganz normale Menschen. Was mich betrifft, kam’s mir besonders heimatlich in der 25 Kilometer von Ravensburg entfernten Metzgerei meiner Großtante vor. Über Notzeiten des vergangenen Jahrhunderts hinaus hatte sich dort der Brauch erhalten, dass am Sonntagnachmittag ins große Wohnzimmer über Metzgerei und Schlachterei eingeladen wurde. Metzgerstöchter trugen Kuchen- und Wurstplatten auf, sodass der ebenso hungrigen wie dankbaren Verwandtschaft eine mehrstündige Kombination aus Kaffee und Kuchen sowie Aufschnitt und kaltem Braten mit Kartoffelsalat bevorstand.
Auch für kulturelle Einsprengsel war gesorgt. Eines der Metzgersmädle klimperte fröhliche Weisen am Klavier, und für zu Herzen gehende Weisen sorgte gegen Abend Tante Lore am Akkordeon, begleitet vom Gesang dreier ihrer vier Schwestern. „ Jenseits des Tales“und „ Kein schöner Land “rührten seinerzeit alle zu Tränen! Meine Mutter war hinter mir her, weil ich mich gerne in die Schlachterei absentiert hatte, wo Schweine – und Rinderhälften an Haken hingen und mich Kuhaugen aus Schüsseln anstarrten.
Den Frauen verabreichte meine Großtante später selbst gemachten Eierlikör, während ihr Gatte dürstende Männer und zukünftige Schwiegersöhne mit Schnaps und Bier sowie dezidierten Meinungsäußerungen zu Bundeskanzler Adenauer und Wirtschaftsminister Ehrhard herausforderte. Niemand kam während der sonntäglichen Heimattage auf die Idee, den neu erworbenen SchwarzWeiß-Fernseher anzuschalten.