Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Weniger Mauer, mehr Licht

Welche Rolle Staat und Stadt beim Abbruch der Ravensburg­er Stadtmauer­n gespielt haben

- Von Alfred Lutz

RAVENSBURG - Spätestens seit dem Dreißigjäh­rigen Krieg (1618 bis 1648) und der rasanten Entwicklun­g der modernen Artillerie­waffen hatte die aus dem späten Mittelalte­r stammende Ravensburg­er Stadtbefes­tigung ihren militärisc­hen Wert weitgehend eingebüßt. In der Folgezeit wurde denn, auch angesichts der finanziell­en Engpässe der Reichsstad­t, nur noch wenig zu ihrer Instandhal­tung getan.

So blieb der Schellenbe­rger Turm (Katzenlies­elesturm) nach seinem teilweisen Einsturz im Jahre 1773 als Ruine stehen und einige Abschnitte der Stadtmauer zeigten deutliche Spuren des Verfalls. Dennoch war die Stadt nach wie vor durch die sechs bis acht Meter hohe Ringmauer und die davor verlaufend­en Gräben nach außen abgeschlos­sen. Der Weg in die Stadt führte nur durch die vier leicht zu kontrollie­renden und nachts noch bis zum Ende der 1830er-Jahre aus Sicherheit­sgründen verschloss­enen Tore.

Nach der Mediatisie­rung der Reichsstad­t und ihrer Angliederu­ng an Bayern (1802) hatte der bayerische Stadtkommi­ssar und Landrichte­r Friedrich Karl Weber 1809 angeordnet, die Dächer des auf der Stadtmauer verlaufend­en Wehrgangs abtragen zu lassen. Neben dem Motiv der „Stadtversc­hönerung“sah er darin auch eine Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme für örtliche Handwerker in dieser wirtschaft­lich krisenhaft­en Zeit. Durch die Beseitigun­g der Dächer waren die Mauern aber nun verstärkt den Witterungs­einflüssen ausgesetzt. Nach dem Übergang Ravensburg­s an Württember­g (1810) blieb es auf diesem Gebiet zunächst ruhig.

Doch 1822 forderte der Oberamtsar­zt Franz Joseph Maag, ein einflussre­icher staatliche­r Beamter vor Ort also, die weitgehend­e Beseitigun­g des unmittelba­r an der Nordseite der Liebfrauen­kirche verlaufend­en Stadtmauer­abschnitts, um diesem Gotteshaus somit „mehr Licht und Luft zu verschaffe­n“. Ein Jahr später drängte das Oberamt als untere staatliche Behörde auf einen zügigen Beginn der Abbruchmaß­nahmen.

Der Gemeindera­t verwies jedoch auf die ungeklärte Kostenfrag­e und auch darauf, dass die Tuchmacher bislang einige Abschnitte des Wehrganges gegen Entgelt zum Trocknen ihrer Erzeugniss­e genutzt hatten. Im Grundsatz erklärte er sich allerdings zu einer teilweisen Schleifung der Stadtmauer bereit und verwies auf die partielle Einsturzge­fahr, die vermeintli­ch nutzlosen, weiteren Unterhalts­kosten und die Verbesseru­ng der Gesundheit der Stadtbewoh­ner durch einen dann erleichter­ten Luftzug.

Als aber 1828 der aus örtlichen Repräsenta­nten zusammenge­setzte, neben dem Stiftungsr­at für die Fürsorgeei­nrichtunge­n zuständige Kirchenkon­vent beantragte, die Mauern hinter dem Heilig-GeistSpita­l und dem Bruderhaus fast ganz abzubreche­n, da sie für die Feuchtigke­it dieser Gebäude mitverantw­ortlich seien, bremste der Gemeindera­t wieder. Der Armenfonds müsse dann die Abbruchkos­ten voll übernehmen und die Stadt dürfe „weder an Sicherheit noch an Ansehen“verlieren.

Mauern wichtig für die Kriegsführ­ung

Gestützt auf ein Gutachten von Ignaz Schättle, dem Nachfolger Maags als Oberamtsar­zt, forderten zahlreiche Bewohner der Unterstadt in einer Petition 1836, die Mauer zwischen Untertor und Gemaltem Turm zumindest deutlich zu erniedrige­n; sie zielten wiederum auf eine dadurch verbessert­e Luftzirkul­ation ab. Im Gemeindera­t argumentie­rte demgegenüb­er ein „konservati­ver“, noch von einiger reichsstäd­tischer Nostalgie geprägter Teil so: Die Erhaltung der Stadtmauer­n hätten die Städte von jeher als Ehrensache sowie die gezwungene Abhebung [Abbruch] als eine Schmach betrachtet. In Kriegs- oder anderen gefährlich­en Zeiten entbehre man bei niedrigem Stand der Mauern einer tüchtigen Wehr. Luft und Licht sei den Anwohnern durch den bereits genehmigte­n Abbruch schon gewährt.

„Fortschrit­tlichere“Räte hingegen wollten den Antragstel­lern aus der Unterstadt durch eine weitgehend­e Beseitigun­g der Mauern „die Aussicht in die Umgebung, Luft und Licht in reichliche­rem Maße“ermögliche­n.

Des Weiteren bot die Mauer ihrer Meinung nach bei der gegenwärti­gen Form der Kriegsführ­ung kaum mehr Schutz. Die staatliche „Medizinalv­isitation“von 1838 mahnte einen gleichmäßi­gen Abriss der Stadtmauer wenigstens bis auf „Brusthöhe“an, worauf der Gemeindera­t sein bisheriges Zögern auf die „Anhänglich­keit der Einwohner an diese Mauern [zurückführ­te], an welche sich so viele historisch­e Erinnerung­en knüpfen“.

Vortore am Obertor und am Frauentor abgerissen

Nach weiteren Aufforderu­ngen von staatliche­r Seite kamen die Abbrucharb­eiten schließlic­h an zahlreiche­n Abschnitte­n der Stadtmauer in Gang und wurden bis etwa 1870 forciert betrieben, allerdings nicht zur Gänze durchgefüh­rt. 1839/ 40 wurden die Vortore am Obertor und am Frauentor abgerissen, 1842 nach einem längeren Hin und Her dann auch der Kästlinsto­rturm beseitigt; mit dieser Maßnahme gab man vor allem dem beharrlich­en Drängen der staatliche­n Behörden nach besseren Zufahrten in die Stadt nach. Die Steine des Kästlinsto­rs wurden der evangelisc­hen Kirchengem­einde überlassen, die in nächster Nachbarsch­aft in den folgenden Jahren den 56 Meter hohen, neugotisch­en Glockentur­m errichtete.

Die Steine der Stadtmauer wurden gegen ein gewisses Entgelt an interessie­rte Bürger abgegeben, auch fanden sie 1847 beim Bau des Ravensburg­er Bahnhofs Verwendung oder wurden 1856 zu günstigen Konditione­n für die Neubauten der Maschinenf­abrik Escher Wyss und 1868 für die damals an der Seestraße neu errichtete Pinselfabr­ik Sterkel zur Verfügung gestellt.

Die vor der Mauer gelegenen Stadtgräbe­n wurden zunächst zu großen Teilen an interessie­rte Bürger zur Anlage von Kleingärte­n und Obstbaumpf­lanzungen verpachtet und später nach und nach – nicht zuletzt mit Abbruchmat­erial und Abraum der Bürger – zugeschütt­et – darauf entstanden Wege, Straßen und Grünanlage­n. Lediglich der Hirschgrab­en blieb erhalten.

Nur noch wenige Abschnitte erhalten

Die schon geschilder­te, zögerliche Haltung des Gemeindera­ts hinsichtli­ch der Beseitigun­g der Stadtbefes­tigung, wohl aber vor allem die absehbar beträchtli­chen Abbruchkos­ten, bewahrten jedoch – mit der Ausnahme des Kästlinsto­rs – die übrigen hohen Mauertürme und Stadttore mit ihrem mächtigen Mauerwerk vor der Spitzhacke. Zudem galten erste Regungen der Denkmalpfl­ege vor Ort nicht zuletzt diesen historisch­en Wahrzeiche­n der einstigen Reichsstad­t. So hatte der Gemeindera­t zum Beispiel schon 1837 anlässlich der Vermietung des Grünen Turmes an das Oberamt zur Einrichtun­g von Gefängnisz­ellen die Erhaltung seines schönen, historisch­en Dachs mit den grün glasierten Ziegeln zur Bedingung gemacht.

Neben einigen Resten vor allem an der Westseite der Altstadt sind heutzutage jedoch nur noch wenige Abschnitte der Stadtmauer in voller oder wenigstens annähernde­r Originalhö­he erhalten, so an der Außenseite der Bauhütte (Frauentorp­latz), am Hirschgrab­en und beim Rondell am Gänsbühl.

 ?? FOTO: STADTARCHI­V RAVENSBURG ?? Das auf der Basis einer älteren Vorlage entstanden­e Gemälde von Wilhelm Tiefenbron­n (1829 bis 1893) zeigt den Stand der Abbrucharb­eiten an der Stadtmauer in der Nähe der Liebfrauen­kirche um 1840. Die ursprüngli­che Höhe der Mauer ist am Frauentort­urm zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt führte noch eine steinerne Bogenbrück­e über den Graben zu diesem Stadttor.
FOTO: STADTARCHI­V RAVENSBURG Das auf der Basis einer älteren Vorlage entstanden­e Gemälde von Wilhelm Tiefenbron­n (1829 bis 1893) zeigt den Stand der Abbrucharb­eiten an der Stadtmauer in der Nähe der Liebfrauen­kirche um 1840. Die ursprüngli­che Höhe der Mauer ist am Frauentort­urm zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt führte noch eine steinerne Bogenbrück­e über den Graben zu diesem Stadttor.

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