Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Leben auf der Warteliste
Aulendorfer wartet auf eine neue Lunge und äußert sich zur Organspendepraxis in Deutschland
AULENDORF - Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fordert derzeit vehement einen Wechsel der Gesetzeslage bei der Organspendepraxis in Deutschland. Weg von der Entscheidungslösung hin zur Widerspruchsregelung. Dies würde bedeuten, dass künftig jeder Bürger automatisch Organspender ist, solange er oder seine Angehörigen nicht ausdrücklich widersprechen.
Diese Vorgehensweise ist in vielen europäischen Ländern üblich. Spahn erklärt: „Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Spenderorgan gefunden wird. Das muss sich ändern!“Gegenwind bekommt der Politiker nicht zuletzt von der katholischen Kirche (die SZ berichtete mehrfach). Bischof Gebhard Fürst aus Rottenburg-Stuttgart: „Organspende ist eine besondere Form der Nächstenliebe und muss frei bleiben von jedem sozialen Druck.“Für den Aulendorfer Reiner Rudolf hat die Diskussion ein besonderes Gewicht: Er hofft selbst auf eine Spenderlunge.
Anfang August bekommt Reiner Rudolf (Jahrgang 1950) den erlösenden Anruf aus der Uniklinik Freiburg. „Sie stehen auf der Warteliste von Eurotransplant!“Damit gehört er offiziell zu den rund 400 Menschen in Deutschland, die auf eine neue Lunge warten. Mit diesem Anruf steigt die Hoffnung der Familie, dass der Vater zweier erwachsener Söhne das Enkelkind, dessen Ankunft für November geplant ist, aufwachsen sehen darf. Ab sofort muss er jederzeit erreichbar sein, könnte doch schon das nächste Telefonklingeln mit der Nachricht aus dem Transplantationszentrum verbunden sein, dass ein passendes Spenderorgan zur Verfügung steht. „Der Anruf kann jede Minute kommen, Tag und Nacht“, erklärt der Organanwärter. Bis dahin müsse er regelmäßig zu Untersuchungen nach Freiburg. Alles in allem eine äußerst belastende Situation, trotz aller Hoffnung.
Beim Tanzen wurde die Luft knapp
2013 ging der Handelsvertreter in den Ruhestand. Nach wie vor war er sportlich aktiv, spielte Tennis und Golf. Im Jahr 2016 traten aus heiterem Himmel die ersten Krankheitszeichen in Form von Atemnot und Schwäche auf. Der leidenschaftliche Tänzer kann sich noch gut daran erinnern, dass er beim Tanzen mit seiner Frau völlig ungewohnt während einer Tanzrunde aufgeben musste. Als nächstes fiel das Treppensteigen immer schwerer. „Wir haben diese Anzeichen zuerst aufs Alter geschoben“, blickt das Ehepaar zurück. Erst als eine Bronchitis nicht heilen wollte, suchte er die Lungenfachklinik in Wangen auf. Nach etlichen Untersuchungen stand die niederschmetternde Diagnose fest: idiopathische TRAUERANZEIGEN Lungenfibrose – eine besonders aggressive Form der Lungenfibrose, mit rasch voranschreitendem Verlauf, die sich nicht auf eine bestimmte Ursache zurückführen lässt.
Mittlerweile hat sich Rudolf weitgehend mit seiner Krankheit arrangiert. Auch, dass er 24 Stunden vom Sauerstoff abhängig ist. Sport sei leider nicht mehr möglich. Im Stadion feuert der Fußballfan trotz der enormen Einschränkung immer noch regelmäßig die Mannschaften der SGA an. Ein Sauerstofftank reiche gerade so für ein Spiel aus, freut er sich. Zwei dieser tragbaren Tanks bezahle die Krankenkasse. So kann er für etwa vier bis fünf Stunden das Haus verlassen. Sein Bewegungsradius in und ums Haus ist auf rund zehn Meter begrenzt, so weit reicht der Schlauch des stationären Gerätes.
Lange vor dem Auftreten der Krankheit hat das Ehepaar Rudolf sich mit dem Thema Organspende auseinandergesetzt und ist seit Jahrzehnten im Besitz eines Spenderausweises. „Für mich ist das ein Akt der Nächstenliebe“sagt Reiner Rudolf, und seine Frau nickt zustimmend. Anders sieht das der Großteil der deutschen Bevölkerung. Die Bereitschaft zur Organspende hat in Deutschland im Jahr 2017 mit unter 800 Spendern ein absolutes Tief erreicht. Im Gegenzug warten rund 10 000 schwerkranke Menschen in Deutschland auf diese einmalige Chance von Lebensrettung, Heilung oder Linderung ihrer Krankheit. „Die meisten Menschen denken doch erst an eine Organspende, wenn sie selbst krank werden und ihr Leben davon abhängt“, schätzt Reiner Rudolf die derzeitige Situation ein.
Betroffener hat klare Meinung zur Ethikdiskussion
Eine gesetzliche Änderung der Transplantationsmedizin weg von der Entscheidungs- oder erweiterten Zustimmungslösung, hin zur Widerspruchslösung, wie dies in vielen anderen Ländern üblich ist, würde er sehr begrüßen. „Damit steigt sicherlich die Zahl der Spenderorgane, was für die Menschen auf der Warteliste Lebensverlängerung, mehr Lebensqualität oder sogar das Überleben bedeutet“, ist der Betroffene überzeugt.
Zur Ethikdiskussion der katholischen Kirche, die die besondere Forderung der Freiwilligkeit der Organspende in den Vordergrund rückt und sich klar gegen die Widerspruchslösung stellt, äußert er sich abschließend: „Ich hoffe, dass keiner von diesen Gegnern jemals selbst auf eine Organspende angewiesen ist.“
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