Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Fakten und Filme
Eine Woche nach den schrecklichen Ereignissen am Marienplatz darf man festhalten, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Ravensburger besonnen und angemessen auf die Messerattacke mit drei Schwerverletzten am hellichten Tag reagiert hat. Es braucht ein paar Tage, um den Schock zu verdauen, dass jeder zufällig an diesem Freitagnachmittag Opfer hätte werden können: Eis schleckende Spaziergänger, an Bushaltestellen wartende Jugendliche, Cafébesucher.
Umso wichtiger ist gleichzeitig der Blick auf die Fakten nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen: Der mutmaßliche Täter ist ein offenbar psychisch schwer kranker Mann. 3,5 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Fachärzten von Psychosen betroffen. Angehörige und Freunde wissen, wie schwer es ist, ihnen zu helfen, zu verhindern, dass sie zu einer Gefahr für sich und vielleicht auch für andere werden. Man kann sich ausmalen, um wie vieles schwieriger für eine Handvoll Ehrenamtlicher es ist, eine angemessene Beobachtung und Behandlung für einen alleinstehenden Flüchtling durchzusetzen. In den kommenden Wochen wird auch die Frage zu beantworten sein, ob es Warnsignale gegeben hat, dass der 21-Jährige dringend Hilfe braucht und ob und warum diese Signale übersehen worden sind.
Noch ein Fakt: Die ersten beiden Opfer des Angreifers waren ebenfalls Asylbewerber, junge Menschen, die hier Schutz und ein besseres Leben suchen und mit dem Messerstecher keinen Streit hatten. Sie gerieten offenbar ebenso unvermittelt in Gefahr wie alle anderen, die zu diesem Zeitpunkt in der Stadt unterwegs waren. Das festzuhalten ist wichtig, denn natürlich gab es auch in Ravensburg diejenigen, die schon Minuten nach der Tat eine „politische Erklärung“für sie parat hatten. Und diejenigen, die einen bodenlosen Unfug verbreiteten von einer weiteren erstochenen Frau am Bahnhof, einem zweiten Täter, der in der Südstadt untergetaucht sei und „Allah“gerufen habe, oder gar einer inszenierten Geschichte.
Der nördliche Marienplatz ist nach dieser Bluttat wieder stärker in den Fokus gerückt. Dass dieses Areal ein relativer Brennpunkt in Ravensburg ist, steht fest. Die Stadt muss sich über weitere Maßnahmen Gedanken machen, wie sie die gefühlte und tatsächlich vorhandene Unsicherheit im Zentrum bekämpfen kann. In den vergangenen Wochen ist das ganz gut gelungen. Die Messerattacke aber ist als Referenztat vermutlich sogar eher ungeeignet dafür, eine Diskussion über noch stärkere Polizeipräsenz und Videoüberwachung an dieser Stelle zu führen. Denn der Tatort dürfte vor einer Woche reiner Zufall gewesen sein. Stadt und Polizei tun übrigens gut daran, auch den Ravensburger Bahnhof stärker in den Blick zu nehmen. Hier hat sich eine zweite Szene entwickelt, die derzeit fast täglich Polizeimeldungen produziert.
Apropos Videoüberwachung: Fast genauso entsetzt wie über den Messerangriff selbst waren Zeugen über das Verhalten von zahlreichen Passanten. Den widerlichen Autobahngaffer, es gibt ihn auch zu Fuß und auch in Ravensburg. Da wird mit dem Handy mitten draufgehalten auf blutende Opfer, auf geschockte Angehörige, auf Rettungskräfte und Polizisten, die versuchen, unter großem Druck ihren Dienst zu machen. Man wünschte, die Polizei könnte entschiedener gegen diese Leute vorgehen. Wer die Frau gesehen hat, die mit der linken Hand einen Wagen mit einem Kleinkind schiebt und mit der rechten in aller Ruhe schreiende Verletzte filmt, der wird auch dieses Bild so schnell nicht vergessen.