Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Hauptverdächtiger war Sonderstab bekannt
Im Fall Freiburg sind Baden-Württembergs Innenminister Strobl und Ermittler unter Druck
STUTTGART/FREIBURG (lsw) - Ein zunächst nicht vollzogener Haftbefehl im Fall der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung in Freiburg bringt den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) in die Bredouille. Der Hauptverdächtige war dem Sonderstab gefährliche Ausländer im Landesinnenministerium bekannt.
Bei dem Mann handele es sich um einen Syrer, sagte Thomas Strobl am Freitag in Stuttgart. Das könnte der Grund dafür gewesen sein, dass der im Ministerium angesiedelte Sonderstab den Fall nicht mit Priorität behandelt habe. „Wir können derzeit syrische Straftäter nicht nach Syrien abschieben.“Strobl appellierte an den Bund, seine Lageeinschätzung von 2012 zu Syrien zu überarbeiten. Es müssten künftig zumindest Straftäter an einen sicheren Ort in Syrien zurückgebracht werden können, forderte er.
Insgesamt stammten sieben Verdächtige aus Syrien – ein Verdächtiger ist Deutscher. Sie sitzen in UHaft. Von zwei weiteren Männern, die allerdings unbekannt sind, hat die Polizei nun Körperspuren gefunden. Gegen den Hauptverdächtigen lag vor der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung bereits ein Haftbefehl vor, der aber nicht vollzogen wurde. Bernd Belle von der Freiburger Kriminalpolizei sagte am Freitag, dass sich eine solche Tat ereignen könnte, sei nicht abzusehen gewesen. In den Tagen vor dem Verbrechen sei eine Verhaftung nicht möglich gewesen, weil der Mann untergetaucht war. „Dann haben uns die Ereignisse überrollt“, sagte der Beamte mit Blick auf die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung, die sich in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober ereignete.
Strobl kündigte eine Reihe von Maßnahmen an, um die Sicherheit in Freiburg zu erhöhen – etwa durch zusätzliche Polizisten, darunter auch berittene. Es werde verstärkt Razzien an bestimmten Orten sowie „Sicherheitskonferenzen“geben. Bei letzterem sollen die Bürger darüber informiert werden, wie sie sich selbst gegen Kriminalität besser schützen könnten. Rücktrittsforderungen gegen seine Person bezeichnete der Innenminister als nicht ernst zu nehmend. FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke hatte seinen Rücktritt verlangt. Strobl habe versucht, eine Panne bei der Vollstreckung des Haftbefehls gegen den Hauptbeschuldigten zu vertuschen, so Rülke. SPD-Landtagsfraktionschef Andreas Stoch sagte: „Minister Strobl zeigt sich mit der Aufklärung des schrecklichen Verbrechens in Freiburg völlig überfordert.“
FREIBURG - Karl-Heinz, an dessen Arm sich seine Frau eingehakt hat und versucht, ihn von der kleinen Demonstration wegzuziehen, sagt: „Aber das kann doch nicht nach jeder schrecklichen Tat immer wieder die einzige Antwort bleiben.“Das Gesicht des etwa 70-Jährigen unter seinem Hut ist gerötet, sein Atem steigt stoßweise in die kalte Abendluft. Ein Reflex sei es, sofort alle Einwanderer in Schutz zu nehmen. Das sei ebenso falsch, wie alle Migranten pauschal zu Kriminellen zu erklären. Aber: „Ich will das nicht mehr schlucken, dass es immer nur heißt: Man darf nicht pauschalisieren. Ich kann’s nicht mehr hören.“Er habe nie AfD gewählt und er werde es auch in Zukunft nicht tun, die Typen seien ihm zu blöd. Aber eines nehme er sich dann doch heraus, nämlich laut und deutlich zu sagen: „Mir ist der Preis einer liberalen Flüchtlingspolitik inzwischen zu hoch, wenn das heißt, dass junge Frauen solchen Schweinen zum Opfer fallen. Und die Politik stellt sich hin und sagt: Da kann man nichts machen.“
Dass es verabscheuungswürdige Schweine waren, die sich an der Gruppenvergewaltigung auf dem Hans-Bunte-Areal vor knapp drei Wochen beteiligt haben, das würden auch die kompromisslos einwanderungsfreundlichen Demonstranten an diesem kalten Vorabend zu Allerheiligen unterschreiben. Sie haben sich vor dem Bürgerhaus Zähringen im gleichnamigen Stadtteil versammelt, um „denen da drinnen“, also den rund 60 Mitgliedern und Sympathisanten der AfD im Gebäude, zu zeigen, dass sie deren Hass und Hetze nicht dulden. Dem verleihen die rund 200 Demonstrierenden ausgerechnet mit dem skandierten Satz „Ganz Freiburg hasst die AfD“Ausdruck. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren ruft: „Meine Empörung bekommt ihr nicht, um euren Hass zu schüren!“Aber es sind wenige Menschen an diesem Abend auf der Straße, die nicht empört wären.
Widerwärtige Details
Der Grund dafür liegt exakt 21 Tage zurück: die Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen, geschehen nur knapp zwei Kilometer vom Ort der Demonstration entfernt. Im Industriegebiet Nord, im Bereich des sogenannten Hans-Bunte-Areals, eines Technoclubs. Die Ermittlungen der Polizei werfen ein widerwärtiges Bild auf die Nacht des 13. Oktober: Das Mädchen soll in der Disco neben Ecstasy zudem ohne ihr Wissen vermutlich K.o.-Tropfen verabreicht bekommen haben. Einer der Täter soll sie dann auf ein dicht bewaldetes Grundstück direkt neben dem Club gezerrt haben und über sie hergefallen sein. Was dann genau geschehen ist – darüber hält sich die Polizei im Detail noch bedeckt. Die „Badische Zeitung“schreibt, dass der erste Vergewaltiger noch mehr Männer in der Disco per Handy benachrichtigt hat, die sich dann reihum an dem hilflosen Opfer vergangen haben sollen. Einer nach dem anderen – und dann wieder von vorne. Laut den Recherchen der Badischen Zeitung soll das Martyrium des wehrlosen Mädchens am Ende vier Stunden gedauert haben.
„Niemand will dieses widerwärtige Verbrechen schönreden“, sagt jetzt eine Studentin, die Teil der Demonstration ist. Doch das dürfe trotzdem nicht als Rechtfertigung herhalten, an verfassungsmäßigen Rechten zu rütteln. „Zum Beispiel am Asylrecht.“Und es sei natürlich auch kein Grund, die liberale Stimmung in der Stadt mehrheitlich kippen zu lassen.
Anruf bei Simone Erdenberger, die sich in verschiedenen Initiativen der Flüchtlingshilfe engagiert. Sie muss es wissen, ob da in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren, spätestens seit dem Sexualmord an Maria 2016, etwas gekippt ist. Sie sagt: „Immer wenn was passiert, dann spüren wir das auch.“Im Gefolge solcher Verbrechen müssten sich Flüchtlingshelfer auch in Freiburg üble Beschimpfungen anhören. „Bei mir ging das sogar so weit, dass ein Rechtsradikaler einen Steckbrief von mir mit persönlichen Daten im Internet veröffentlicht hat.“Da werde es einem schon sehr mulmig. Viele andere wüssten sehr genau, wo die Grauzone für ihre Angriffe lägen, sodass man sie kaum belangen könne. „Ich lass mich aber nicht einschüchtern“, sagt Simone Erdenberger und versichert, auch keinen Fall einer Flüchtlingshilfeeinrichtung zu kennen, wo sich Helfer auf Druck von außen abgewendet hätten. Oder aus einer geänderten Haltung gegenüber Flüchtlingen heraus das Handtuch warfen. Und was die sexuell motivierten Verbrechen angeht, hat Erdenberger auch eine klare Meinung: „Das ist kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Männerproblem.“
In den Demonstrationszug vor dem Bürgerhaus Zähringen kommt plötzlich Bewegung: Ein Grüppchen älterer Herren geht, von der Polizei geschützt, auf den Eingang zu. Wieder schallt es: „Ganz Freiburg hasst die AfD.“Vereinzelt sind Beschimpfungen wie „Nazi!“und „Schweine!“zu hören. Hinter einer der Polizeiabsperrungen spricht ein Beamter – kurzes hellbraunes Haar, etwa 50 – ins Funkgerät. Wie viele seiner Kollegen das Areal sichern, dürfe er nicht sagen. Aber allein auf dem Vorplatz stehen mindestens 30 Polizisten und ein Dutzend Einsatzfahrzeuge. „Ja“, meint der Beamte nachdenklich, „Freiburg war auch schon mal ein ruhigeres Pflaster.“Jetzt bahnt sich Polizeisprecherin Laura Riske den Weg durch die Kollegen. Die blonde Frau müsste eigentlich abgekämpft wirken, weil sie seit dem Morgen „ohne Mittagessen“im Einsatz ist, wie sie versichert. Dennoch wirkt sie frisch und entschlossen. „Es gibt nun mal viel Arbeit im Moment“, sagt sie.
„Wir bekommen natürlich mit, dass solche Verbrechen das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigen“, sagt Riske überaus sachlich. Und die Polizei versuche auch, darauf mit mehr Präsenz zu reagieren. „Aber wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben.“Denn mehr Beamte fallen auch in Freiburg nicht vom Himmel. Und wie schätzt sie die Sicherheitslage in der Stadt ein? Gibt es Grund zur Beunruhigung? Da überlegt Laura Riske kurz, bevor sie vorsichtig antwortet: „Es wird womöglich eine Tendenz zur Zunahme von Sexualdelikten festgestellt. Allerdings auf einer recht geringen Basiszahl.“Demnächst solle es wahrscheinlich eine Pressekonferenz zu dem Thema geben, der sie nicht vorgreifen wolle. Ratschläge zu geben, um kein Opfer zu werden, finde sie generell schwierig, weil dann immer der Umkehrschluss in Raum stehe, man selbst habe eine Tat verhindern können. „Aber es gibt Faktoren, die begünstigen können, dass Ihnen etwas passiert.“Zum Beispiel der Konsum von Alkohol. Am wachsamsten und wehrhaftesten sei man eben, wenn der Kopf klar ist.
Trumpsches Zahlenverständnis
Ein paar Minuten später im Foyer des Bürgerhauses: Auf Tischen stehen Leckereien in Gläschen. Ein Ordner mit kräftigen Oberarmen im engen TShirt öffnet die Tür zum Zuschauerraum. In der dritten Reihe sitzt KarlHeinz, aber ohne seine Frau. Er hat sich doch noch entschieden, anzuhören, was die AfD an diesem Abend, während es auf dem Vorplatz hoch hergeht, zu sagen hat. Obwohl die ihm doch eigentlich „zu blöd“ist. Gerade kommt Landtagsmitglied Stefan Räpple auf die große Bühne. Er beginnt seine Rede damit, die „größte patriotische Demo seit Jahrzehnten“zu loben – und meint damit einen Protestmarsch seiner AfD am vergangenen Montag in Freiburg. Nach Angaben der Polizei lag die Zahl derer, die mit der AfD marschiert sind, in der Spitze bei 500 Menschen. Die Gegendemonstration zählte 1500 Personen. Räpple setzt seine Rede mit Erinnerungen an seine eigene Studentenzeit in Freiburg fort. Und dass er es schwer gehabt habe, „als einziger Patriot unter den ganzen Linken“.
Früher am Tag scheitern die Versuche der „Schwäbischen Zeitung“, ein Gespräch mit Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn zu bekommen, mehrfach. Gerade jetzt sei er sehr beschäftigt, heißt es aus seinem Büro immer wieder. Später wird bekannt, dass Horn, weil er immer wieder gemahnt hatte, nicht alle Flüchtlinge pauschal in einen Topf zu werfen, massiven Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen ausgesetzt ist. Inzwischen hat sich Horn aus einigen sozialen Netzen zurückgezogen. Auch seine Aussagen, wonach er sich Freiburg als weltoffen und liberal nicht kaputtmachen lassen wolle, stehen in der Kritik.
Dabei hat sich Freiburg offenbar schon verändert – zumindest wenn man Menschen fragt, die dort leben. Zum Beispiel die 19-Jährige Lisa, die auch die Disco kennt, in deren Umfeld das Verbrechen geschehen ist. „Man macht sich selbst schon mehr Gedanken. Wo laufe ich nachts lang? Gehe ich allein um diese Zeit noch raus? Laufe ich besser mit jemandem mit, wenn es geht?“Die Ecke, an der die Vergewaltigung stattgefunden haben soll, sei als nicht ungefährlich bekannt. „Es fällt auf, dass die Kriminalität dort die letzten Jahre gestiegen ist“, sagt Lisa. Sie selbst habe allerdings keine große Angst, wenn sie unterwegs sei. „Ich finde, man sollte jederzeit mit einer gewissen Vorsicht durchs Leben gehen.“Sie glaube aber, dass sie sich gut wehren könne. „Ich bin mit vielen Jungs aufgewachsen“, erklärt sie und lacht.
Der Anführer der Demonstration ruft gegen 20 Uhr zum friedlichen Abzug auf. Der Tross setzt sich langsam in Bewegung. Zum Skandieren von Parolen scheint es inzwischen zu kalt geworden zu sein. Zurück bleiben die Polizeiabsperrungen und Beamte, die so lange bleiben werden, bis die AfD-Veranstaltung zu Ende ist. Dann geht die Glastür auf und Karl-Heinz kommt mit festen Schritten aus dem Gebäude. Er wolle jetzt nach Hause. Er habe auch keine Lust, über die „merkwürdige Veranstaltung“zu reden, und belässt es dabei, zu sagen: „Das, was die da erzählen, ist auch keine Lösung.“Spricht’s und bahnt sich seinen Weg durch das nächtliche Freiburg, bevor er von der Dunkelheit verschluckt wird.
Später am Abend, vor der Disco Hans-Bunte-Areal: An der Bushaltestelle gegenüber singen zwei Betrunkene irgendwelche Lieder in einer unidentifizierbaren Sprache. Das Eingangstor des Clubs ist noch geschlossen. Auf der Rückseite der Disco befindet sich der Nachtclub Velvet. Dort trudeln die ersten nächtlichen Halloween-Partygänger ein. Zwei Frauen, die sich Teufelshörner ins Haar gesteckt haben und deren Gesichter leichenblass geschminkt sind, sagen: „Hans-Bunte ist kein guter Club für Mädchen.“Es gebe dort Männer, die könnten ihre Finger nicht bei sich behalten. „Dass das gleich so ausarten kann, das hat alle hier geschockt.“Aber zu Hause sitzen sei auch keine Lösung.
Ein mulmiges Gefühl
Noch etwas später am Abend sitzen Martina und Holger zu Hause in Freiburg-Haslach am Esstisch und denken über das nach, was Karl-Heinz gesagt hat. Das mit den Geflüchteten, die man nicht pauschal unter Generalverdacht stellen dürfe – aber genauso wenig reflexhaft allesamt in Schutz nehmen. Das Ehepaar hat selbst eine 21-jährige Tochter. „Man fragt sich immer, wie man reagieren würde, wenn es das eigene Kind träfe“, sagt Holger.
Und Martina bewundert die Eltern von Maria, die vor zwei Jahren in Freiburg einem Sexualmord durch einen Flüchtling zum Opfer gefallen war. Die hätten ihre Haltung zum Asylrecht nicht geändert. „Die haben sogar eine Stiftung gegründet“, sagt Martina. Auf der Internetseite der Stiftung steht: „Maria Ladenburger studierte Medizin voller Begeisterung, Engagement und Lebensfreude, um als Ärztin für ihre Mitmenschen da sein zu können. Sie war und sie bleibt ein Sonnenschein für ihre Familie, für ihre Freundinnen und Freunde. Die Stiftung will das Geschenk ihres Lebens an Studierende weitergeben und in ihrem Sinne ein Zeichen der Mitmenschlichkeit setzen.“Ein explizit genannter Stiftungszweck ist die Unterstützung „ausländischer Studierender bei der Integration“.
Und wie geht es jetzt weiter in Freiburg? Wie umgehen mit dem Dilemma, als liberale Stadtgesellschaft einerseits frei, offen und gastfreundlich sein zu wollen – und sich andererseits effektiv zu schützen vor Menschen, die zu üblen Taten fähig sind und dafür Freiheit, Offenheit und Gastfreundlichkeit missbrauchen? Die Diskussion über diese Frage hat Freiburg fest im Griff. Schwer zu glauben, dass das Ringen um praktikable Antworten die Stadt nicht längst schon verändert hätte.
„Man macht sich selbst schon mehr Gedanken. Wo laufe ich nachts lang?“ Die 19-jährige Lisa aus Freiburg