Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Nichts geht mehr
Beim VfB Stuttgart tauchen nach der nächsten Pleite überall Brandherde auf – und der Name Jürgen Klinsmann
STUTTGART - Es dürfte wohl kaum ein Fußballspiel in jüngster Zeit – von diversen HSV-Partien abgesehen – gegeben haben, bei dem Matthias Sammer im TV so gegen eine Mannschaft vom Leder zog wie gegen seinen ExClub VfB Stuttgart während und nach dem 0:3 gegen Eintracht Frankfurt. Sammer war 1992 Meister mit dem VfB, 2004/05 für ein Jahr Trainer, und es tat ihm offenbar weh, was er da sah – mit den eigenen Kindern geht man ja oft strenger um als mit anderen.
Ergo ließ der 51-Jährige kein gutes Haar an den Stuttgartern. „Taktisch eine Katastrophe“, sagte er etwa bei Eurosport über ihr Abwehrverhalten, „das ist Wahnsinn, ich habe selten so etwas erlebt. Diese Schwankungen sind nicht normal.“Auch ihre Fitness sei beklagenswert: „Wie willst du das Mentale verbessern, wenn du körperlich nicht hinterherkommst? Der VfB kann momentan nicht mitgehen, aber dann musst du arbeiten. Also zieh dir die Turnschuhe an und lauf!“Besonders beim zweiten Gegentor, bei dem Luka Jovic alle Zeit der Welt hatte, um an die Eckfahne zu laufen und von dort zurück ins Zentrum auf den unbewachten Ante Rebic zu flanken, verlor Sammer den Glauben: „Da kann ich ja noch einen Espresso trinken und ein Stück Erdbeerkuchen essen – das darf einfach nicht passieren.“
Weinzierl vor dem Negativrekord
Das Schlimme für den VfB ist: Bei allem hatte Sammer recht. Was ist von einer Mannschaft zu halten, die „fast jeden wichtigen Zweikampf in der Defensive verloren hat“, wie Trainer Markus Weinzierl Freitagnacht einräumte? Die „fast jedes Kopfballduell verloren hat und schon in den vorigen Spielen läuferisch nicht ans Maximum herangekommen ist“, wie Manager Michael Reschke monierte? Die sich dann in der Rückwärtsbewegung noch gegenseitig im Stich lässt, sich weigert, sich zu helfen? Und die noch höher verlieren hätte können, wie Frankfurts Trainer Adi Hütter richtig bemerkte – dann nämlich, wenn die immer noch überlegenen Gäste nicht zwei Gänge zurückgeschaltet hätten?
Der VfB scheint das Fußballspielen verlernt zu haben. Nichts geht mehr in Stuttgart. Nicht unter Tayfun Korkut, und schon gar nicht unter Nachfolger Weinzierl, der mit einem 0:11-Tore und 0-Punkte-Start aus drei Spielen hinter Jörg Berger (3:16 Tore 1986 in Hannover) der erfolgloseste Neu-Trainer der Bundesliga-Geschichte ist – und nun in Nürnberg und spätestens nach der Länderspielpause in Leverkusen versuchen muss, irgendwie Punkte zu ergattern, um diesen wenig schmeichelhaften Rekord noch zu vermeiden. Der Mannschaft fehle das Selbstvertrauen, sie brauche dringend ein Erfolgserlebnis und mehr Stabilität, sagte Weinzierl nur. Und ja, die körperlichen Defizite habe man ebenfalls beobachtet.
Zwei weitere Niederlagen, und die nächste Trainer- respektive ManagerDiskussion dürfte losgehen in Stuttgart, und diesmal könnte sie den Club in ihren Grundfesten erschüttern. Bereits vor der Partie hatte VfB-Idol und Aufsichtsratsmitglied Guido Buchwald Reschke diskreditiert. Der Sportvorstand habe unglückliche Entscheidungen getroffen, er halte es für falsch, wenn die sportliche Kompetenz nur an einer Person festgemacht werde, hatte Buchwald via Sport1 moniert. VfB-Präsident Wolfgang Dietrich kündigte an, das Thema bei der nächsten Ratssitzung auf die Agenda zu setzen.
Ob Buchwald dort in den Senkel gestellt wird – oder Reschke –, bleibt die Frage. Schon wird diskutiert, ob hinter Buchwalds Kritik womöglich mehr steckte. Die „Welt“interpretierte die Aussagen des Ex-Weltmeisters Buchwald als wegbereitende Schützenhilfe für seinen Kumpel Jürgen Klinsmann. Der Ex-Bundestrainer, ebenfalls ein VfB-Idol, hatte Tage zuvor in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“erklärt, dass er nach längerer Pause endlich wieder ins Fußballgeschäft einsteigen wolle. „Ich merke, dass es mich mit meiner Erfahrung aus fast 40 Jahren und meinem Netzwerk in den Profizirkus zurückzieht“, sagte er. Nicht unbedingt als Trainer, sondern als Mann fürs Grundsätzliche. Zudem denkt er über eine Rückkehr nach Deutschland nach, Sohn Jonathan spielt bei Hertha BSC, Tochter Leila werde nach ihrem Schulabschuss bald in Europa studieren. „Mein Herz schlägt immer noch für den VfB“, merkte er noch an.
Könnte „Klinsi“Reschke ergänzen, ihm zuarbeiten, ihn womöglich ablösen – oder gegebenenfalls Trainer Weinzierl ersetzen? Vieles scheint möglich nach dem mit Abstand schlechtesten VfB-Start der Clubgeschichte (10 Spiele, 5 Punkte, 6:24 Tore), der ungebremst, wie zurzeit, zwangsweise wieder in die zweite Liga münden dürfte. Die Reaktion der Fankurve – erneut kamen unerschütterliche 58 500 – sprach Bände. In der zweiten Halbzeit drehte die Cannstatter Kurve dem Team minutenlang den Rücken zu, am Ende gab es ein gellendes Pfeifkonzert. Mit Liebesentzug zu drohen, war schon immer ein beliebtes Mittel in wackelnden Beziehungen – zur Besserung geführt aber hat es noch nie.
Auch Özcan und Maffeo verletzt
Die Mannschaft wirkte danach so ratlos wie auf dem Feld. Kapitän Christian Gentner meinte: „Wir stecken in der Scheiße drin. Das haben wir uns selbst zuzuschreiben. Und da müssen wir uns auch selbst herausziehen. So hast du keine Chance, in der Liga zu bleiben.“Körperliche Defizite allerdings habe man nicht – „beim Sieg gegen Bremen hat man gesehen, dass wir marschieren können“.
Tatsächlich leidet dieser VfB an einer Mischung aus allen Problemen, die ein Bundesliga-Schlusslicht so haben kann – inklusive Verletzungspech. In Nürnberg werden auch Berkay Özcan (fällt mit Syndesmosebandriss bis Vorrundenende aus) und vermutlich Pablo Maffeo (Sprunggelenk) fehlen, die Comebacks von Daniel Didavi und Tassos Donis lassen weiter auf sich warten. Die Stuttgarter werden sicher elf Mann zusammenbringen beim „Club“– ob sie auch eine Mannschaft finden, ist die Frage.