Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Revolution in Ulm und Oberschwaben
Auch in Friedrichshafen und Ulm riefen Arbeiter im November 1918 die Revolution aus
RAVENSBURG (bami) - Revolution und Oberschwaben? Das klingt nach einem Widerspruch. Aber tatsächlich gingen auch hier die Arbeiter 1918 auf die Straße und demonstrierten zu Tausenden für den Frieden und mehr Rechte. In Friedrichshafen konstituierte sich am 5. November 1918 der erste Arbeiter- und Soldatenrat in Württemberg. Über 10 000 Teilnehmer gab es bei einer Demonstration am 11. November in Ulm, auf der die legendäre Clara Zetkin eine Rede gehalten hat.
„Eine gespaltene Stadt mit einer unsicheren wirtschaftlichen Grundlage.“Elmar Kuhn, Archivar des Bodenseekreises, über Friedrichshafen in den 20er-Jahren
ULM/FRIEDRICHSHAFEN - Vor 100 Jahren war nicht nur der Erste Weltkrieg zu Ende, sondern auch das bisherige politische System, die Monarchie. Kaiser Wilhelm II. ging ins Exil, sämtliche Bundesfürsten, auch die in Württemberg, Baden und Bayern, wurden gestürzt. Zur Schulbuchvorstellung der Revolution von 1918 gehören die meuternden Matrosen in Kiel, Philipp Scheidemanns und Karl Liebknechts Ausrufung der Republik am 9. November in Berlin sowie Kurt Eisners Proklamation des Freistaats Bayern. In unseren Köpfen sind Revolution und Oberschwaben unvereinbare Begriffe. Aber auch in der Region zwischen Alb und Bodensee hat die Revolution stattgefunden. Es ist kaum bekannt, dass schon im Oktober in Friedrichshafen Tausende Arbeiter auf die Straße gingen und bei einer Großdemonstration in Ulm am 11. November Clara Zetkin vor mehr als 10 000 Menschen sprach.
War das überhaupt eine Revolution? Aber ja! Auch wenn in unseren Köpfen immer noch Lenins Diktum herumschwirrt, wonach die Deutschen zuerst eine Karte für den Bahnsteig lösen, den sie stürmen. Dass der Zusammenbruch des Alten nicht im Stile der Oktoberrevolution in Russland ablief, heißt ja nicht, dass der Bruch nicht ebenso fundamental war. Schließlich wurde im gesamten deutschen Reich von einem Tag auf den anderen die alte Staatsverfassung abgeschafft. Der Kaiser dankte ab, die Fürsten waren entmachtet. Das deutsche Reich wurde Republik. Alle durften wählen, auch Frauen. Der Achtstundentag wurde gefordert. Das betraf die Berliner ebenso wie die Menschen im Südwesten. Und doch gab es Unterschiede – zum Beispiel zwischen Garnisonstädten wie Ulm und Weingarten, den bäuerlich geprägten Landschaften Oberschwabens und einer Industriestadt wie Friedrichshafen.
Revolutionäres Friedrichshafen
Elmar Kuhn, 30 Jahre lang Leiter des Archivs des Bodenseekreises, hat darüber geforscht, wie die Revolution in Friedrichshafen, Ravensburg, Biberach, Isny oder Riedlingen verlaufen ist. Er hat einen über 70-seitigen wissenschaftlichen Aufsatz darüber verfasst, nachzulesen auf seiner Homepage (www.elmarlkuhn.de). Kuhn schreibt, Friedrichshafen sei die einzige Stadt in Oberschwaben, die auch in der allgemeinen deutschen Revolutionsliteratur gelegentlich erwähnt werde. „Man könnte sogar sagen, die deutsche Novemberrevolution begann in Friedrichshafen, denn hier setzten die Demonstrationen mit revolutionären Forderungen am frühesten ein, auch wenn man von hier aus freilich keine Regierung, weder im Land noch im Reich, stürzen konnte.“
Nach einer Betriebsversammlung bei Maybach kam es am 22. Oktober 1918 zur ersten Friedensdemonstration. „Bei neuen sich steigernden Demonstrationswellen am 24. und 26. Oktober fordern die von 300 über 700 auf 4000 anwachsenden Teilnehmer zunächst Frieden, dann die Republik, schließlich den Sozialismus.“Schon am 5. November wählt die Friedrichshafener Arbeiterschaft, die im Krieg auf mindestens 10 000 meist zwangsverpflichtete Beschäftigte angestiegen war, einen Arbeiter- und Soldatenrat. Es ist einer der ersten im ganzen Reich. „Eine Versammlung von 8000 Mann lässt an das Innenministerium ihre Forderungen telegrafieren: u. a. Abdankung aller Dynastien, Regierungsübernahme durch die Räte, Sozialisierung und 7-stündige Arbeitszeit.“
Aber die Nachrichtenübermittlung war damals nicht so schnell wie heute. Am See bekommt man zwar mit, dass in Berlin der Generalstreik ausgeblieben ist, erfährt aber nichts von den Vorgängen in Norddeutschland oder in München. Man geht wieder zur Arbeit. „Am 9. November“, schreibt Kuhn, „als in Reich und Land die Monarchien gestürzt, neue republikanische Regierungen gebildet werden, tritt in Friedrichshafen der Arbeiter und Soldatenrat wieder zu einer Sitzung zusammen, nun allerdings im Rathaus, und lässt das Landsturmbataillon entwaffnen.“8000 bis 10 000 Menschen sind auf dem Rathausplatz versammelt. Bei der Revolutionsfeier am 11. November hält ausgerechnet der Generaldirektor der Zeppelinwerke, Alfred Colsman, eine Rede. Er spricht sich für Frieden und Völkerverständigung aus und sagt, dass es das Verdienst der Sozialdemokratie sei, „wenn Deutschland gerettet werde“. In den folgenden Jahren erweist er sich jedoch als Hardliner, der „das Bürgertum bis zur Bewaffnung formiert und 1922 seinen Arbeitern die Aussperrung aufzwingt“. Im Frühjahr 1919 gelingt es Colsman, eine „Sicherheitskompanie“in der ehemaligen Luftschifferkaserne unterzubringen.
Kuhn stellt fest, Friedrichshafen sei in den folgenden Jahren „eine gespaltene Stadt mit einer unsicheren wirtschaftlichen Grundlage, abhängig vom ZeppelinKonzern, eine Stadt, in der die Arbeiter an Einfluss gewonnen haben, aber Minderheit bleiben, intern politisch fraktioniert, misstrauisch bewacht von der Staatsmacht“.
Im ländlichen Oberschwaben ließen sich die Ziele der Revolutionäre noch schwerer nachhaltig umsetzen. „Nach kurzem Revolutionsrausche kam die alte Lethargie wieder“, heißt es in einem Artikel der „Oberschwäbischen Freien Presse“von 1921. Das ländliche, katholische Oberschwaben war nie eine Hochburg der Arbeiterschaft. Bei den Reichstagswahlen 1912 hatte die SPD im Oberamt Ravensburg gerade einmal zehn Prozent erreicht. In Weingarten verkündet der Oberbürgermeister schon am 12. November 1918: „Das bürgerliche Leben nimmt seinen ungehinderten Fortgang.“Am 13. November kommen Abgesandte des Arbeiter- und Soldatenrats Friedrichshafen nach Wangen, werden aber gleich „ausgebootet durch christliche Gewerkschafter“, wie Kuhn schreibt. „Am Tag darauf wird auf Veranlassung aller Ortsvorsteher ein Bezirksbauernrat gewählt, der einen gemeinsamen Ausschuss mit dem Arbeiterrat bildet, und der Redakteur des Zentrumsblatts präsidiert.“
Riedlingen ist das kurioseste Beispiel. Dort wird ein Volksrat gegründet, dem der Rektor und die beiden Geistlichen vorstehen. „Die Mehrheit der Bevölkerung in den oberschwäbischen Kleinstädten und Landgemeinden hat die Änderung der Staatsform über sich ergehen lassen, erschreckt, kurz furchtsam, nicht begeistert, bald verärgert und aggressiv.“
In Ulm waren zeitweise 25 000 Soldaten stationiert. Dort gab es schon Ende 1917 Proteste von Arbeitern und Soldaten. Als am 6. und 7. November 1918 die Spartakistenführer Fritz Rück und August Thalheimer in Ulm verhaftet wurden, erfasste die Welle der Revolution ganz Württemberg. Am
9. November wurde in Stuttgart die Republik ausgerufen. Linksrevolutionäre Demonstranten hatten sich Zugang zum Wilhelmspalais verschafft. Sie zogen zwar wieder ab, aber der revolutionäre Arbeiter- und Soldatenrat hisste die rote Fahne auf dem Dach der königlichen Residenz. König Wilhelm und seine Frau Charlotte verließen Hals über Kopf Stuttgart und fuhren mit ein paar Vertrauten im Auto ins Jagdschloss Bebenhausen. In seiner Abdankungserklärung schrieb der Monarch zwei Wochen später, „dass ihm ein so guter Abgang bereitet worden sei wie kaum einem anderen Bundesfürsten“.
In Ulm verkündete am Nachmittag dieses 9. November 1918 der Befehlshaber der Garnison, Generalmajor Adolf von Schempp, dass er sich „unbedingt hinter die gesetzmäßig zustande kommende Volksregierung“stelle. Wie Hans-Eugen Specker in der Chronik der Stadt Ulm berichtet, übernahm einen Tag später der Arbeiter- und Soldatenrat die Geschäfte und versicherte „nicht auf bolschewistischer, sondern auf sozialistischer Basis“zu stehen. Im Tagebuch der Kommandantur hieß es am
10. November 1918: „Die Umwälzung vollzog sich in Ulm in allergrößter Ruhe und Ordnung.“Einen Tag später erlebte Ulm eine Großdemonstration, an der 10 000 bis 12 000 Menschen teilgenommen haben sollen. Clara Zetkin, eine der Führungsfiguren der sozialistischen Frauenbewegung, hielt eine Rede. Angeblich wehten rote Fahnen vom Münsterturm.
Aber in Ulm wie im gesamten Reich gab es starke Kräfte, die die alte Ordnung wiederherstellen wollten. Die Konfrontation zwischen sozialistischen und bürgerlichen Kräften deutete sich schon früh an. Die Ausrufung der Republik war das eine, der Aufbau eines funktionierenden, gerechten Staatswesens das andere. Wie Kuhn schreibt, überließen die eingesessenen alten Eliten den Räten gerne die unangenehmen Aufgaben der Verwaltung – die Verwaltung der Not. Aber zu einer echten Teilhabe kam es nicht.
Die wirtschaftliche Situation war in den Jahren nach dem Krieg verheerend. Die Menschen hungerten, sie hatten keine Arbeit. Im ganzen Land kam es zu sogenannten Hungerprotesten. Ein besonders schlimmes Ende nahm der vom 22. Juni 1920 in Ulm. Der Ulmer Stadtarchivar Michael Wettengel hat vergangenes Jahr in dem Band „Ulm und Oberschwaben“über diese blutige Unruhe einen ausführlichen Artikel veröffentlicht. Polizei und Reichswehr lösten die Demonstration mit Gewalt auf, schossen in die Menge und töteten sieben Menschen. Eine unbekannte Zahl wurde schwer verletzt. Einen Monat später gab es einen ähnlichen Vorfall in Ravensburg. Demonstranten erstürmten die Räume des Oberamts. Reichswehr aus Weingarten wurde herbeigerufen. Zwei Männer wurden erschossen, 18 schwer verletzt. Zwei Tage später tötete das Militär zwei weitere Personen.
Nicht einmal ein Minimalkonsens
Die Tage der Revolution haben im westdeutschen Geschichtsbewusstsein niemals jene Spuren hinterlassen wie andere historische Zäsuren. Kuhns These, dass zwar alle den Frieden, die Revolution aber nur eine Minderheit wollte, kann durchaus für den Großteil des Reiches gelten. Nicht nur für Oberschwaben. „Was die einen wollten, weckte existenzielle Ängste der anderen.“Keine Seite habe der anderen Mitsprache zugestanden. „Die Bürger und Bauern in der Region wollten nicht einmal einen Anteil an der Macht abtreten, die radikalen Arbeiter in ihrer Zukunftsgewissheit beanspruchten die ganze Macht als Exekutoren einer Geschichtsteleologie, in der Bürger und Bauern keinen Platz mehr hatten. Im Kampf um die Macht wurde der Gegner von beiden Seiten zum Feind erklärt und damit der Minimalkonsens aufgekündigt, dessen die Demokratie bedarf.“Kuhn kommt zum nüchternen Befund: „Die erste deutsche und württembergische Republik haben oberschwäbische Arbeiter mit erkämpft, ihre Partei und ihre Mitbürger haben verhindert, dass diese Republik besser fundiert wurde.“