Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wie war´s denn hier in Weingarten 1968?
Oswald Burger las in der Bücherei aus dem Roman „Vorläufige Beruhigung“von Peter Renz
WEINGARTEN - Wie war´s denn hier in Weingarten 1968? Diese Frage diskutierte Oswald Burger am Freitagabend in der Bücherei Weingarten mit zahlreichen Zuhörern seiner Lesung. Der Historiker und Autor aus Überlingen stellte ausgewählte Passagen aus dem Buch „Vorläufige Beruhigung“von Peter Renz vor. Der 1980 erschienene, mit dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnete Roman gilt als der erste, der die 68erStudentenbewegung und deren Brüche reflektiert.
50 Jahre ist es her, dass es in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Antikriegsdemonstrationen kam. Bekannt geworden als 68er-Bewegung weitete sie sich in den 1960er Jahren auf weltweit mehrere Staaten aus. So auch in Westdeutschland als „Marsch durch die Institutionen“der so genannt Neuen Linken. Vor dem Hintergrund des runden Geburtstages haben sich die Volkshochschule Weingarten unter der Leitung von Barbara Brodt-Geiger und die Bücherei Weingarten unter der Leitung von Petra Hasenfratz zu ihrer ersten Kooperation zusammen getan. Ein literarisches Format erschien ihnen am geeignetsten, um der Frage nachzugehen, wie die Zeit in Weingarten erlebt wurde.
Schriftsteller, Lektor und Verleger Peter Renz, 1946 in Weingarten geboren, hat mit seinem Buch einen ANZEIGE wesentlichen Beitrag geliefert. In dem Zusammenhang zitierte Oswald Burger zu Beginn der Lesung aus der Laudatio, die Hermann Bausinger 1981 anlässlich der Preisverleihung an Peter Renz in Überlingen hielt. Das „vorläufig“transportiere auf infame Weise Beunruhigung mit Blick auf Josefs Frau Nita, deren Verfassungstreue das Tübinger Oberschulamt überprüft und die später dann doch eine Anstellung erhält. Im Kapitel „Keinen Widerstand leisten“findet sie sich in einer Bodnegger Schule wieder. Vor dreizehn Schülern im Alter von neun bis 13 Jahren von den umliegenden Bauernhöfen. Vom Gestank und dem Dreck, von weder schreiben, lesen noch rechnen können, erzählt Renz in unvermittelt direkter Weise. Wenn Nita wieder und wieder mit feuchten Papierkügelchen attackiert und der Klassenraum zur Arena wird.
Unbürgerlicher Anstrich am „Fest“
Zum „Fest“, das das Lehrerpaar Josef und Nita mit Sohn Adrian in Altdorf am Schluss ausrichten, sind all die Studienkollegen und Kampfgenossen von der Pädagogischen Hochschule (PH) eingeladen. Peter Renz komponiere hier eine farbige Ouvertüre aus Latzhosen, Holzpantinen und selbstgestrickten Strümpfen, so Bausinger. Wenigstens die Garderobe demonstriere den alternativen, unbürgerlichen Anstrich der Versammelten. Da mussten schon einige der Zuhörer schmunzeln, was so viel heißt, dass sie sich darin wiederfanden. In der Mehrheit gehörten sie dieser Generation an – in Weingarten oder Biberach. Warum kein einziger junger Mensch und auch kein einziger PH-Student der Einladung gefolgt waren, blieb ohne Antwort.
Burger, der selbst keine 68-Verbindung in Weingarten hatte – er machte 1968 gerade Abitur – las Passagen quer durch den Roman nach dem Motto „Lassen Sie sich verwirren!“. So gab er Einblicke in ganz persönliche Problematiken der Familie, wenn es in einem der „alternativen“Kinderläden zum antiautoritären Drunter und Drüber kommt. Ein neuer, selbst gesteuerter Mensch sollte hier heranwachsen. Eine nie
Peter Renz gilt als der „Echte“
Die Reaktion der Zuhörer – „Wir haben uns da wiedergefunden. Das war unsere Bewegung“– war am Abend einhellig. Ob etwas aus der Zeit irgendwo überlebt habe, fragte Burger. „Ja, nicht so radikal. Man hat sich angepasst trotz der Zweifel“, äußerten sich einige, die sich gut an diese Zeit erinnerten und an Peter Renz. Er kam definitiv aus der Arbeiterschicht, weiß bis heute nicht, wer sein Vater ist und galt vielen als „Guru“. Während sich Gutbürgerliche nur als „Prolos“verkleidet hätten, war Renz der „Echte“. Er war es, der Anfang der 1970er Jahre an der PH ein lyrisches Seminar gesprengt hat mit der Provokation an den Professor: „Wo ist der gesellschaftliche Nutzen ihrer Vorlesung!“Und sonst? Halblebige Flugblattaktionen, chaotische und hedonistische Gruppenaufspaltungen, ein Antrag des AStA, am Blutritt mit hölzernen Steckenpferdchen teilzunehmen, der abgelehnt wurde. Allen gemeinsam ist die lebhafte Erinnerung an die 1968er Jahre und der Parole, den „Muff von 1000 Jahren“zu überwinden.