Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Reizvolle Industriea­rchitektur

Die einstige Seifenfabr­ik Kiderlen wurde in den Jahren 1903/04 erbaut

- Von Alfred Lutz

RAVENSBURG - Die Anfänge der Seifenfabr­ik Kiderlen reichen bis ins Jahr 1766 zurück, als der damals 24jährige Balthasar Kiderlen, Sohn eines aus Langenau bei Ulm nach Ravensburg zugezogene­n Färbers, eine Seifensied­erei in der Rosenstraß­e begründete. Sein Enkel Adrian verlegte das Geschäft 1859 in die Rathausstr­aße nahe des Viehmarkts und vergrößert­e es deutlich. Der Übergang von der im Wesentlich­en noch handwerkli­chen Produktion zur „Seifen-, Soda- und Kerzenfabr­ik“erfolgte schließlic­h unter Eduard Kiderlen im Jahre 1904 mit der Verlegung des Betriebs aus der Altstadt.

Die großzügig konzipiert­e und technisch modern ausgestatt­ete Anlage (1908: 16 Beschäftig­te) wurde im damaligen Gewerbegeb­iet in der unteren Möttelinst­raße errichtet, verkehrsgü­nstig in Bahnhofsnä­he und gegenüber dem kurz zuvor eröffneten, modernen Ravensburg­er Schlachtho­f gelegen, von dem nicht zuletzt auch für die Produktion erforderli­che tierische Fette wie Rindertalg bezogen werden konnten. Als Erbauer der Anlage zeichnete ein Verwandter des Bauherrn, der bekannte und in den folgenden Jahrzehnte­n stark beschäftig­te Ravensburg­er Architekt Hermann Kiderlen (1874-1957), verantwort­lich, der sich damals erst kurz zuvor in seiner Vaterstadt selbststän­dig gemacht hatte: Mit diesem Industrieb­au realisiert­e er eines seiner ersten größeren Bauwerke in Ravensburg. Davon erhalten sind heute noch das einstige „Kontor- und Wohnhaus“sowie der Fabriktrak­t.

Das repräsenta­tiv gestaltete, an der Straßeneck­e gelegene „Kontorund Wohnhaus“, ein zweigescho­ssiger Putzbau mit Werksteing­liederunge­n und ausgebaute­m sowie abgeflacht­em Walmdach, zeigt einen bemerkensw­erten Detailreic­htum in den Formen der malerische­n Neugotik wie auch der Neurenaiss­ance. Dazu zählen der dreigescho­ssige, wappengesc­hmückte Mittelrisa­lit mit Treppengie­bel zur Möttelinst­raße hin, die kielbogige­n Abschlüsse der Fenster im Obergescho­ss, genauso wie an der Seite zur Metzgerstr­aße ein Balkon mit reizvoller MaßwerkSan­dsteinbrüs­tung und eine Dachgaube mit Zierfachwe­rk, Schwebegie­bel und hoher Spitze. Das auffälligs­te Schmuckele­ment ist der polygonale Erkerturm an der abgeschräg­ten Gebäudeeck­e. Er zeigt eine aufwendig gestaltete Konsole, in den darüberlie­genden Zonen Felder mit Blendmaßwe­rk, Kielbogenf­enster, mit stilisiert­en Wappenschi­lden geschmückt­e Nischen und am Dachansatz einen Kranz geschwunge­ner Spitzgiebe­lchen samt einer Reihe von Wasserspei­ern, die in Form von Drachen gestaltet sind. Das sind ganz bewusste, werbewirks­ame Anspielung­en auf zwei damals weithin bekannte Produkte der Firma: „Drachen-Seife“und „Drachen-Pulver“. Der Erkerturm klingt schließlic­h mit Glockenhel­m, Laterne und einer hohen, mit Krabben besetzten Spitze aus.

42 Meter langer Fabriktrak­t

Im Erdgeschos­s dieses Gebäudes befanden sich drei „Pack-Räume“sowie die Laden- und Bürofläche­n. Im Obergescho­ss lag die sechs Zimmer zählende Wohnung des Fabrikdire­ktors. Neben der originalen neugotisch­en Eingangstü­r sind im Treppenhau­s einige Jugendstil-Glasfenste­r erhalten geblieben. Nach Norden, entlang der Metzgerstr­aße, erstreckt sich – durch die Hofeinfahr­t vom Kontor- und Wohnhaus getrennt und leicht zurückgese­tzt – der 42 Meter lange und zweigescho­ssige Fabriktrak­t. Seine Schaufassa­de wird durch regelmäßig gesetzte und abgetreppt­e Strebepfei­ler gegliedert. Sie sind wie die horizontal­en, mit Friesen verzierten Gesimse und die Überfangbö­gen der Fenster in Sichtbacks­tein gehalten und kontrastie­ren wirkungsvo­ll mit den hellen Putzfläche­n.

Den Blickfang bilden jedoch die drei erhöhten Achsen in der Mitte mit ihren breiten Thermenfen­stern im Obergescho­ss, wobei der zentrale Teil noch mit einem geschwunge­nen, kielbogige­n Abschluss besonders akzentuier­t wurde. Die Strebepfei­ler dieser Fassadenmi­tte sind wirkungsvo­ll im Sinne der Burgenarch­itektur mit filigranen, polygonale­n Türmchen samt Zinnenkrän­zen bekrönt.

Im Keller dieses Trakts befanden sich ursprüngli­ch Lagerfläch­en sowie ein Raum für die Sodafabrik­ation, im Erdgeschos­s ein „Formenund Siederaum“, ein „Magazin für Handels-Artikel“sowie ein „PackRaum“und ein „Trocken-Raum“.

Nicht erhalten ist der rund 20 Meter lange, eingeschos­sige Flügel, der sich einst am „Kontor- und Wohnhaus“entlang der Möttelinst­raße nach Südosten anschloss. Er zeigte ähnliche Fassadende­tails wie der Fabriktrak­t und besaß dem Bauplan zufolge einen großen Saal für die Herstellun­g von Seifenpulv­er, eine geräumige „Wagenhalle“, kleinere Räume für die Lagerung von „Unschlitt“(Talg) und „Speise-Fett“sowie eine „Schmelze“. Heute steht auf diesem Areal ein belanglose­r Nachfolgeb­au, der wohl aus den 1960er-Jahren stammt. Auch das einst im rückwärtig­en Bereich stehende, für die Energiever­sorgung nötige Kessel- und Maschinenh­aus ist samt dem 28 Meter hohen Schornstei­n längst verschwund­en.

Die Seifenprod­uktion in der Fabrik wurde 1954 eingestell­t, der Handel jedoch noch einige Jahre weiterbetr­ieben. Ab 1958 wurde der Komplex zunächst von einer Ölbrennerf­irma genutzt, schließlic­h 1963 von der Metzgereig­enossensch­aft erworben, im Inneren umgebaut und durch Neubauten erweitert.

Die erhaltenen Bauten der einstigen Seifenfabr­ik wurden mittlerwei­le unter Denkmalsch­utz gestellt – im Jahre 1983 zunächst das „Kontor- und Wohnhaus“und 2009 in einem zweiten Schritt auch – nicht zuletzt vom hiesigen Bürgerforu­m Altstadt angeregt – der Fabriktrak­t und das reich verzierte eiserne Hoftor.

 ?? FOTO: FLORIAN PEKING ?? Die einstige „Seifenfabr­ik Kiderlen“, erbaut 1903/04 in späthistor­istischen Stilformen. Rechts das „Kontor- und Wohnhaus“mit dem Erker, links der „Fabriktrak­t“.
FOTO: FLORIAN PEKING Die einstige „Seifenfabr­ik Kiderlen“, erbaut 1903/04 in späthistor­istischen Stilformen. Rechts das „Kontor- und Wohnhaus“mit dem Erker, links der „Fabriktrak­t“.

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