Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Entsetzen in der heilen Weihnachtswelt
Der neue Anschlag zeigt, dass es absolute Sicherheit nicht gibt – 150 Millionen Besucher auf Weihnachtsmärkten
BONN (KNA) - Schon wieder ein Weihnachtsmarkt als Ziel: Zwei Jahre nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz hat es in Straßburg erneut Tote und Verletzte gegeben. Schon im Dezember 2000 hatten Islamisten den Weihnachtsmarkt der größten Stadt des Elsass im Visier. Der Anschlag wurde nur knapp vereitelt. Gleiches gilt für die 2017 aufgedeckten Pläne von Islamisten für einen Anschlag auf den Essener Weihnachtsmarkt.
Die Märkte gelten bei Experten als besonders verletzlich: Sie sind nur schwer zu schützen. Zugleich garantieren solche Taten maximale Aufmerksamkeit und Entsetzen. „Angriffe auf Weihnachtsmärkte sind perfide, weil die Täter bewusst einen Ort auswählen, der als Sehnsuchtsort und Ort der Begegnung zur Weihnachtszeit in der Bevölkerung fest verankert ist“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Schaustellerbunds, Frank Hakelberg, am Mittwoch in Berlin. Die Menschen wollten in eine romantische Welt eintauchen, die mit positiven Kindheitserinnerungen, Hoffnungen und Gemütlichkeit verbunden sei.
Hakelberg rechnet nicht damit, dass die Ereignisse in Straßburg zu einem Besucherrückgang führen werden. Nach dem Berliner Anschlag hätten viele Menschen gesagt: „Wir lassen uns dieses Erlebnis nicht kaputtmachen und unsere Art zu leben und Feste zu begehen, nicht vorschreiben.“
Betonsperren, mehr Sicherheitssere leute und Polizei: Die Veranstalter tüfteln seit Jahren an Sicherheitskonzepten. Dabei lässt sich laut Hakelberg beobachten, dass sie zunehmend auf geschmackvollere Elemente achten. „Da stehen nicht mehr einfach hässliche Betonquader. Die Barrieren werden als große Geschenkpakete getarnt oder mit kleinen Häuschen überbaut.“In Ulm zum Beispiel hat die Stadt Ulmer Spatzen als Betonblocker installieren lassen. Viele Kommunen hätten zudem die Architektur dauerhaft verändert, sagt Hakelberg. „Auch Einkaufszentren, Fußgängerzonen, Märkte müssen geschützt werden.“
Zugleich dringen die Schausteller darauf, die mehr als 3000 Weihnachtsmärkte in Deutschland nicht zu Festungen zu machen. „Auch in Zukunft müssen sie für Offenheit, Begegnung und Lebensfreude sowie un- Art, in Gemeinschaft zu feiern und in Freiheit zu leben, stehen“, sagt Hakelberg.
Nach seinen Angaben besuchen jährlich mehr als 150 Millionen Menschen die Märkte. „Der Besuch gehört mittlerweile fest zur Freizeitgestaltung. Man geht mehrfach hin, trifft sich spontan mit Freunden oder Kollegen zum Glühwein oder schlendert mit der Familie drüber“, berichtet der Hauptgeschäftsführer. Auch viele Einzelhändler, die die Märkte früher als Konkurrenz empfunden hätten, freuten sich in Zeiten zunehmender Onlinekäufe über jeden, der sich in die Innenstädte begibt.
Vorweihnachtliche Märkte gibt es seit dem späten Mittelalter. Im 14. Jahrhundert kam der Brauch auf, Handwerkern wie Spielzeugmachern, Korbflechtern oder Zuckerbäckern zu erlauben, Verkaufsstände für die Kleinigkeiten zu errichten, die die Kinder zu Weihnachten geschenkt bekamen. 1310 wurde ein Nikolausmarkt in München erstmals urkundlich erwähnt, 1434 der Dresdener Striezelmarkt. Und der Nürnberger Christkindlesmarkt lässt sich bis Mitte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen.
Gruppenerlebnis gesucht
Den aktuellen Erfolg erklärt der Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder damit, dass die Menschen auch im Zeitalter des Individualismus nach Gemeinschaft und Gruppenerlebnissen suchten. Dabei beobachtet er eine neue Entwicklung: Die Weihnachtsmärkte werden lauter, bunter, vielfältiger und globalisierter. Aus Weihnachten wird erst Christmas, dann X-Mas. Und aus dem Nikolaus der Weihnachtsmann, das russische Väterchen Frost oder gleich ein gemütlicher Bär mit Zipfelmütze. Christliche Symbole wie Sterne werden von der Schneeflocke verdrängt. „Die heutige Dekoration ist eine Mischung aus Fantasyroman, Ikea und Landlust“, sagt Hirschfelder. „Ein Kirchturm im Hintergrund schadet nicht.“
Hakelberg beobachtet eine Professionalisierung. „Es gibt immer häufiger ein gemeinsames Musikkonzept und zentrale Bühnen mit Kulturprogramm.“Die Veranstalter achteten auch darauf, dass das Kunsthandwerk gut vertreten sei. „Die Besucher sollen aus ihrem Alltag abgeholt werden und in eine schöne Weihnachtswelt eintauchen können.“