Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Suche nach den neuen Carusos
Gesang war in Deutschland lange Zeit ziemlich verpönt – das ändert sich gerade, auch weil Singen glücklich macht und gesund ist wie Wissenchaftler bestätigen
BERLIN (KNA) - Nicht jeder kann ein Caruso werden. Doch vielleicht wächst ja unter den vielen Tausend Kindergartenkindern, die durch die Initiative des Deutschen Chorverbands „Die Carusos“mit dem Singen in Berührung gekommen sind, ein Sänger vom Schlage des Star-Tenors heran.
Auch die Stuttgarter Stiftung „Singen mit Kindern“will Deutschland wieder sangesfreudiger machen. „Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen“, zitiert die Vorstandsvorsitzende Gerlinde Kretschmann, Frau von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, den Geiger Yehudi Menuhin. „Singend kann man sich mit einem Kind schon ganz früh verständigen – noch bevor es mit Worten zu sprechen beginnt.“
Beide Initiativen beruhen auf derselben Erkenntnis: Deutschland gehörte lange zu den Ländern, in denen besonders wenig gesungen wird. Eine Allensbach-Umfrage von 2003 etwa besagte, dass nur noch 39 Prozent der Bundesbürger an Weihnachten selbst singen; 30 Jahre zuvor waren es noch 52 Prozent.
Mittlerweile aber hat sich der Trend wieder gedreht: Der Deutsche Chorverband jedenfalls sieht das Singen wieder im Aufwind. „Das Singen erfreut sich wachsender Beliebtheit“, unterstreicht Verbands-Geschäftsführerin Veronika Petzold im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Auch die Chorszene sei „so vital wie lange nicht mehr“.
Petzold führt die Zurückhaltung der Deutschen vor allem auf den Missbrauch des Gesangs durch die Nazis zurück. „Es ist noch nicht lange her, da galten das Singen und besonders deutsche Volkslieder als kitschig, verstaubt und reaktionär“, sagt sie. Der Philosoph Theodor W. Adorno habe mit seiner These, es gebe strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Singbewegung und Faschismus, dem Gesang einen weiteren Schlag versetzt. „Dieser sogenannte AdornoSchock ist zum Glück überwunden.“
Hinweise gibt es genug: In diesen Tagen pilgern Zehntausende in Fußballstadien, um Weihnachtslieder zu singen. Tausende nehmen das Jahr über an „Rudelsingen“-Veranstaltungen teil. Auch Kinofilme, die das Singen thematisieren, haben großen Erfolg: „Die Kinder des Monsieur Mathieu“etwa, oder das schwedische Drama „Wie im Himmel“.
Männerchöre suchen Nachwuchs
Bei den Chören allerdings gibt es nicht nur Bewegung nach oben: Männerchöre und Gesangsvereine sterben aus. Laut Deutschem Musikrat ging die Zahl verbandlich organisierter weltlicher Chöre zwischen 2015/2016 und dem Folgejahr von insgesamt 23 440 auf 22 000 zurück, bei den kirchlichen Chören von 35 600 auf 33 670. Bei den Mitgliedern blieb die Zahl der weltlichen Sänger mit 1,4 Millionen stabil, bei den kirchlichen sank sie von 749 000 auf 699 000.
Große Bindungsangst
Besonders ländliche Regionen sind von diesen Veränderungen betroffen. Laut Petzold hat das vor allem mit veränderten Lebensgewohnheiten zu tun: Immer weniger Menschen binden sich langfristig an Organisationen, bedingt auch durch mehr Flexibilität im Berufsleben, veränderte Aufgabenteilung in Familien oder durch „die Tatsache, dass Menschen nicht mehr so selbstverständlich an ihre Heimatorte und Traditionen gebunden sind“.
Zugleich aber blühen neue Formen auf: Zeitlich begrenzte Projektchöre wollen ein bestimmtes Werk wie Händels „Messias“oder Orffs „Carmina Burana“aufführen und laden dann Interessenten ein, sich zu beteiligen. Vocal-Gruppen schießen wie Pilze aus dem Boden.
Wichtig für eine dauerhafte Gesangskultur ist es, möglichst früh mit dem Singen zu beginnen. „Eltern sollten möglichst jeden Tag mit ihren Kindern singen“, rät der Leiter des Zentrums für Musikermedizin in Freiburg, Bernhard Richter. „Sonst ist der Zug abgefahren.“Wer singt, muss die Stimmbänder modulieren und zahlreiche Muskeln koordinieren, Gehör und Gesang aufeinander abstimmen – Fähigkeiten, die auch das Immunsystem stärken und Glückshormone hervorlocken. Zudem hat das Singen auch eine starke soziale Funktion: Es vermittle ein Gemeinschaftsgefühl, das mit jenem von Mannschaftssport vergleichbar sei, sagt der Bielefelder Soziologe Thomas Blank.
Dass Singen glücklich macht, betont auch der Neurobiologe Gerald Hüther: „Das Hirn ist beim freien Singen nicht in der Lage, Angstgefühle zu mobilisieren“, sagt er. „Deshalb singen Menschen beim Gang in den Keller. Das tun sie nicht, um Mäuse zu vertreiben.“