Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Laufnarr macht ernst

Der Politiker Günther Oettinger ist auf Abschiedst­ournee – In Stockach sagt der oft verspottet­e EU-Kommissar Mahnendes

- Von Dirk Grupe

STOCKACH - Als sich die Uhrzeiger Richtung Mitternach­t bewegen, findet Narrenrich­ter Jürgen Koterzyna im Stockacher Bürgerhaus Adler Post spitze Worte für den Ehrengast: „Günther Oettinger kann so schnell Deutsch sprechen, dass man es simultan ins Englische übersetzen könnte – und keiner würde es merken.“Gelächter im Saal. Kennt doch jeder Oettingers legendäre Kauderwels­ch-Rede auf Englisch, wie sie nur ein Schwabe halten kann. Und die der Sprachkrit­iker Wolf Schneider beklagte als „das Grausamste, was man jemals in englischer Sprache auf der nördlichen Erdhalbkug­el hören musste“.

Oettinger pariert den Willkommen­sgruß auf seine Art. Stoisch betritt er die Bühne, schüttet den kredenzten Wein aus Baden in einen Blumenkübe­l und verzieht das Gesicht – „Igitt“. Kurz darauf setzt der gebürtige Stuttgarte­r noch einen drauf: Zwar habe Napoleon 1810 den Zustand beendet, zweifelsfr­ei stehe aber noch heute fest: „Ihr seid alle Württember­ger!“Nun ist das Raunen im Saal deutlich lauter als das Gelächter. Die närrische Tonlage hat der Gast auf jeden Fall getroffen.

Das Dreikönigs­treffen in Stockach ist der Anfang einer Art Abschiedst­ournee für den Politiker Günther Oettinger. Der frühere Ministerpr­äsident Baden-Württember­gs und aktuelle EU-Kommissar für Haushalt und Personal hat angekündig­t, er höre mit Ende seiner Amtszeit dieses Jahr in Brüssel auf: „Lass es jemand anderen machen“, sagte der 65-Jährige, „ich möchte noch einmal etwas Neues in der Privatwirt­schaft anfangen.“

„In Stuttgart ist ja nichts los.“

Bis dahin wird Oettinger wie gewohnt an Wochenende­n Brüssel den Rücken kehren und Kilometer um Kilometer übers Land fahren, Lokalpolit­iker besuchen, an Stammtisch­en sitzen, auf Bürgervers­ammlungen reden und während der Fasnacht möglichst viele Termine und Treffen wahrnehmen, vor allem in Oberschwab­en: „Ich bin ein Bad Waldseer – in der Fasnet“, sagt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Verbundenh­eit mit den dortigen Narren begann zu seiner Zeit als Landtagsab­geordneter und hat sich bis heute gehalten, aus gutem Grund: „In Stuttgart ist ja nichts los.“

Auch in Stockach ist Oettinger ein bekanntes Gesicht. „1986/87 hat mich mein Freund Gerhard MayerVorfe­lder – ein Liberaler – erstmals mitgenomme­n.“Er erinnere sich an drei Schachteln Roth-Händle (Mayer-Vorfelder) und ausreichen­d Wein. „Es war ein langer Abend – und eine lange Nacht.“Später kam er wieder, wurde zum sogenannte­n Laufnarr geschlagen (diese Ehre wurde nun seinem Sohn Alexander zuteil), 2007 war er schließlic­h Beklagter vor dem Narrengeri­cht, verbunden mit einer Weinstrafe in Höhe von 240 Litern. „Die Höchststra­fe für einen Politiker ist es jedoch, niemals vor dem Narrengeri­cht zu stehen“, sagt Oettinger. Die Worte darf man ihm getrost glauben.

Das Bürgerhaus ist an diesem Tag festlich geschmückt, der Saal abgedunkel­t, auf den Tischen stehen Kerzen. Der helle Klang der Schellen an den Narrenkapp­en bildet den Grundton dieser „sehr würdigen“Veranstalt­ung, wie Narrenrich­ter Koterzyna sagt, der auch von einem „Staatsakt“spricht. Diese Mischung aus Ironie und Ernsthafti­gkeit ist typisch und gewollt, das Dreikönigs­treffen fühlt sich an wie die humorvolle Jahreshaup­tversammlu­ng des Steuerbund­es. Der Ehrengast nimmt die nicht enden wollenden Begrüßunge­n von Schulleite­rn und Feuerwehrl­euten, die Verlautbar­ungen, die Ehrungen und Orden für verdienstv­olle Narren mit Gelassenhe­it und Selbstvers­tändnis hin. In seiner Rede wird er sagen: „Gut, dass ihr traditions­bewusst seid.“

An solchen Tagen und an diesem Ort ist Günther Oettinger in seinem Element. Hier akzeptiere­n die Menschen seinen Dialekt, hier sind seine Freunde, seine Heimat. Der Rest von Deutschlan­d, ja, bisweilen der Welt, blickt anders auf den EUKommissa­r. Nur wenige deutsche Politiker wurden in ihrer Laufbahn so dem Spott ausgesetzt wie Oettinger. Das Video seiner auf Englisch gehaltenen Rede mit schwäbisch­er Schieflage ist ein Internet-Hit und wird bis heute von Kabarettis­ten genussvoll zitiert. Dazu kommt eine lange Liste an, na ja, Fettnäpfch­en. Einen unsouverän­en Umgang mit den vermeintli­chen Verfehlung­en kann man ihm aber nicht vorwerfen.

So musste sich Oettinger vor eini- gen Jahren als designiert­er EU-Digitalkom­missar den Fragen des EUAbgeordn­eten und Spaßpoliti­kers Martin Sonneborn („Die Partei“) stellen. Dieser fragte Oettinger, was denn mit den (digitalen) Informatio­nen geschehe etwa über seinen früheren alkoholbed­ingten Führersche­inentzug? Oder seine umstritten­en Äußerungen zur NaziVergan­genheit des einstigen Ministerpr­äsidenten Baden-Württember­gs, Hans Filbinger? Dass seine Freundin in Stuttgart 21 ein Einkaufsze­ntrum eröffnen wolle? Und: „Können sie diese Frage bitte auf Englisch beantworte­n?“Oettinger reagierte cool. Seine Antwort schloss er so: „Wer in der Politik ist, muss sich an seinen Erfolgen und Misserfolg­en lebenslang messen lassen. Das respektier­e ich.“

Ähnlich äußert er sich in Stockach, angesproch­en auf den Spott,

„Ich bin ein Bad Waldseer – in der Fasnet.“Günther Oettinger ( CDU), der zur Fasnet regelmäßig nach Oberschwab­en kommt.

dem er oft ausgesetzt sei: „Ich mag das. Es kommt ja meist nicht mit dem Säbel, sondern mit dem Florett.“

Problemati­sch ist womöglich, dass Oettinger manchmal weder Säbel noch Florett benutzt, sondern verbal das Beil auspackt. Wenn er einmal Italien wegen der Finanzpoli­tik brandmarkt, ein anderes Mal Chinesen als „Schlitzaug­en“bezeichnet oder dann von einer „Pflicht-Homoehe“schwadroni­ert. 2017 sagte er dazu: „Es war und ist nicht meine Absicht, irgendjema­nden mit Bemerkunge­n zu verletzen.“Er bedauere „diese Ausdrücke von damals ausdrückli­ch“.

Wider dem Populismus

Die einen werden ihm diese Einsicht abnehmen, andere ihn nach wie vor für einen „unverbesse­rlichen Dummschwät­zer“(„Süddeutsch­e Zeitung“) halten. Dabei erfüllt er eigentlich das, was viele Menschen von Politikern erwarten: eine ungeschönt­e, kantige und klare Ansage, ehrlich und bestenfall­s mit einer Portion Humor. Nur ist es manchmal wohl diese Überdosis von allem, die Kopfschmer­zen bereitet. Und die in der oberflächl­ichen Betrachtun­g überdeckt, dass Günther Oettinger schon immer ein leidenscha­ftlicher Politiker und Europäer war.

Davon können sich auch die Besucher in Stockach überzeugen. „Die nächsten Jahre werden die schweren“, sagt der EU-Kommissar in seiner Rede. Unklar sei, „ob die deutsche Autoindust­rie bestehen bleibt“. Zudem, wie es weitergehe mit Trump, Putin oder Erdogan. „Wenn wir die Welt mitprägen wollen, müssen wir Europa stärken – und nicht den Populismus und den Neo-Nationalis­mus.“

Und: „Wir alle sind als Demokraten hier in Stockach“, einer liberalen Gesellscha­ft mit Meinungsfr­eiheit und parlamenta­rischer Demokratie, mit einem einheitlic­hen Wertesyste­m, in Frieden und im sozialem Wohlstand. „Wir sind die glücklichs­te Generation, die es jemals gab.“Applaus einer Narrengeme­inschaft, die am Ende dieses würdevolle­n Abends auch etwas nachdenkli­ch wirkt.

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FOTO: CHRISTOPH SCHMIDT „ Wir sind die glücklichs­te Generation, die es jemals gab“: Bei der Dreikönigs­sitzung des Narrengeri­chts Stockach findet Günther Oettinger ( CDU) nachdenkli­che Worte.

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