Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Wie viele Jahre sollen wir die Frauen denn noch warten lassen?“

Politikwis­senschaftl­er zur Kommunalwa­hl im Mai: Der Wähler entscheide­t auch über das Geschlecht­erverhältn­is

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RAVENSBURG/WEINGARTEN - In gut fünf Monaten werden die BadenWürtt­emberger zu den Wahlurnen gebeten: Am

26. Mai 2019 sind Kommunalwa­hlen. In Ravensburg wird ein neuer Gemeindera­t und ein neuer

Kreistag gewählt.

Im Ravensburg­er

Kreistag liegt der Frauenante­il derzeit bei nur

12,5 Prozent, im Gemeindera­t bei

25,6 Prozent. Der Professor für Politikwis­senschafte­n an der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten, Gordon Carmele, erklärt im Gespräch mit Lena Müssigmann, wie man unterreprä­sentierte Gruppen zur Kandidatur bewegen könnte.

Herr Carmele, der Landesfrau­enrat hat für die Kommunalwa­hl den Slogan ausgegeben: „Frauen nach vorn – repräsenta­tive Demokratie braucht Vielfalt“. Stimmt das?

Mir persönlich gefällt der Slogan gut, denn er macht auf ein Problem aufmerksam: Wir haben nicht nur den Bundestag mit dem niedrigste­n Frauenante­il seit 1998, auch auf der kommunalen Ebene sind Frauen unterreprä­sentiert. Einerseits ist es sicher wünschensw­ert, dass alle Bevölkerun­gsschichte­n und -gruppen repräsenti­ert werden, damit bei politische­n Entscheidu­ngen die Interessen aller berücksich­tigt werden können. Anderersei­ts stellt sich die Frage, ob mein Vertreter mich nur dann repräsenti­eren kann, wenn er aus der gleichen sozialen Schicht kommt, mein Geschlecht hat und vielleicht sogar noch den gleichen Beruf ausübt wie ich. Ich denke, das ist nicht der Fall. Ich kann mich als Mann auch von einer Frau oder als junger Mensch von einem erfahrenen Kandidaten gut vertreten fühlen. Die Sozialstru­ktur von Repräsenta­nten und Repräsenti­erten muss also aus politikwis­senschaftl­icher Sicht nicht deckungsgl­eich sein. Krasse Missverhäl­tnisse sollten allerdings ebenso vermieden werden.

Bis vor 100 Jahren durften sich Frauen gar nicht zur Wahl stellen. Ist die Unterreprä­sentation der Frauen eine historisch­e Bürde?

Das sollte keine Ausrede mehr sein. Wie viele Jahre sollen wir die Frauen denn noch warten lassen? In Deutschlan­d wurde das Wahlrecht für Frauen ja schon 1918 eingeführt. Das war relativ früh im Vergleich etwa zur Schweiz. Ich denke, es ist Zeit für ein ausgeglich­eneres Verhältnis. Das erreichen die großen Städte in Baden-Württember­g oft schon besser als kleinere Gemeinden. Dabei legt das Kommunalwa­hlrecht den Wählern mit der Möglichkei­t des Kumulieren­s und Panaschier­ens der Stimmen ein mächtiges Instrument in die Hand. So kann jeder entscheide­n, ob er seine Stimmen gleichbere­chtigt zwischen Männern und Frauen vergibt oder mehr oder sogar nur Frauen wählt. Das ist sonst bei keiner Wahl möglich.

Welche anderen Gesellscha­ftsgruppen sind ebenfalls unterreprä­sentiert?

Zu den meist unterreprä­sentierten Gruppen gehören Arbeiter, Migranten und Menschen ohne Hochschula­bschluss. Außerdem gibt es in den Gemeinderä­ten oft nur wenige junge Leute. Wenn Parteien ihre Kandidaten aufstellen, reproduzie­ren sich deren Geschlecht­er- und Altersver- hältnisse. Das heißt, gerade bei den unterreprä­sentierten Gruppen ist zunächst die Förderung des parteipoli­tischen Engagement­s wichtig.

Und wie können sie zu einer Kandidatur ermuntert werden?

Ich habe den Eindruck, dass die Bedeutung der kommunalen Ebene häufig unterschät­zt wird und daher manchem nicht wichtig genug erscheint, um Zeit und Kraft einzubring­en. Wenn man die vielfältig­en Aufgaben der Gemeinden und Landkreise betrachtet, ist das sicherlich falsch, denn in vielen Bereichen, die unser tägliches Leben betreffen, entscheide­n die Gemeinden. Man kann also durch sein Engagement das eigene Leben und das der Nachbarn gestalten und besser machen.

Die politische Diskussion ist im Internet zugespitzt und oft findet sie

auch

auf der persönlich­en Ebene statt. Schreckt das möglicherw­eise auch potenziell­e Kommunalpo­litik-Anfänger ab?

Das kann ich mir schon vorstellen. Gerade auf der kommunalen Ebene kommt hinzu, dass die Gemeinderä­te ja alles andere als hochbezahl­te Spitzenfun­ktionäre sind, zu deren Berufsrisi­ko Anfeindung­en dann gewisserma­ßen gehören könnten. Gerade diesen Menschen, die sich ehrenamtli­ch in den Gemeinden für das Wohl der Menschen einsetzen, gebührt Anerkennun­g und Respekt. Jeder, der solche Verantwort­ungsträger kennt oder sich selbst engagiert, weiß, wie arbeits- und zeitintens­iv diese Tätigkeit ist. Dabei kann man die örtlichen Vertreter auf seine Wünsche oder gegebenenf­alls abweichend­e Meinung ja durchaus aufmerksam machen und versuchen, sie so zu überzeugen.

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FOTO: STUDIOLINE STUTTGART Gordon Carmele

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