Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Tag der Entscheidu­ng in Sachen Brexit

Regierungs­chefin May drohen Niederlage und Misstrauen­svotum – EU denkt an Verschiebu­ng

- Von Sebastian Borger

LONDON/BRÜSSEL (dpa/AFP) - Es wird ein wegweisend­er Tag für die EU, Großbritan­nien und die britische Premiermin­isterin Theresa May. Heute Abend stimmt das britische Parlament über den mit der Europäisch­en Union ausgehande­lten Brexit-Deal ab. Trotz neuer Zusicherun­gen aus Brüssel werden May kaum Chancen eingeräumt, eine Mehrheit für den Deal zu bekommen. Zu groß ist der Widerstand.

Etwa 100 Abgeordnet­e ihrer eigenen Partei haben sich bereits gegen das Abkommen ausgesproc­hen. Die Opposition­sparteien wollen ohnehin geschlosse­n dagegen stimmen. Am Montag wurde eigentlich nur noch darüber spekuliert, wie schlimm Mays Niederlage ausfällt. Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte für diesen Fall ein Misstrauen­svotum gegen May im Parlament an.

Sollten sich die Beteiligte­n auch in den kommenden Wochen nicht auf ein weiteres Vorgehen einigen, droht ein EU-Austritt ohne Abkommen mit dramatisch­en Konsequenz­en für die Industrie und viele andere Lebensbere­iche. Davor warnte am Montag die deutsche Wirtschaft. „Ohne Deal würden zusätzlich Millionen an Zollanmeld­ungen und Milliarden an Zöllen fällig“, sagte DIHKPräsid­ent Eric Schweitzer.

Am Montag kämpfte May jedoch im Parlament noch einmal um Unterstütz­ung. „Geben Sie diesem Deal eine zweite Chance“, sagte sie. Nur so könne ein chaotische­r EU-Austritt oder ein Brexit-Stopp verhindert werden. Die EU hält nun eine Verschiebu­ng des Brexits über das vorgesehen­e Datum 29. März hinaus für möglich. Einige Parlamenta­rier gehen sogar noch weiter: Sie geben die Hoffnung nicht auf, dass Großbritan­nien doch Mitglied bleiben könnte. Mehr als 100 Europaabge­ordnete richteten in einem offenen Brief einen emotionale­n Appell an die Briten: „Wir bitten darum, im Interesse der nächsten Generation den Austritt zu überdenken.“May will aber keine Abkehr vom Brexit und auch keine Verschiebu­ng.

LONDON - Vergangene Woche rief Theresa May bei Tim Roache an. Man habe sich auf zivilisier­te Weise unterhalte­n über den geplanten EUAustritt und über die schlimmen Folgen des möglichen Chaos-Brexit, „No Deal“genannt, berichtete der Vorsitzend­e der Industrieg­ewerkschaf­t GMB anschließe­nd. Zwar sei man unterschie­dlicher Meinung, aber: „Ich bin froh, dass die Premiermin­isterin sich nach fast drei Jahren erstmals bei mir gemeldet hat.“

Einzel- und Kleingrupp­engespräch­e mit obskuren Hinterbänk­lern des Unterhause­s, Telefonate mit Gewerkscha­ftsbossen, am Montag noch rasch der Besuch einer Porzellanf­abrik im mittelengl­ischen Stoke – hektisch hat die britische Regierungs­chefin in den vergangene­n Tagen alle Anstrengun­gen unternomme­n, um das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit zu retten. An diesem Dienstag will das Parlament über das Paket aus Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung abstimmen, das die 62Jährige bereits im November aus Brüssel mitgebrach­t hat. Und trotz des guten Willens, mit dem EUKommissi­onspräside­nt Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk der Premiermin­isterin am Montag noch den Rücken stärken wollten, gilt als ausgemacht: Der Deal wird abgelehnt. Zweifelhaf­t erschien zuletzt nur die Höhe der Niederlage für die Regierung.

Mays Versäumnis

In den Medien, ja in Regierungs­verlautbar­ungen selbst ist von „Mays Deal“die Rede, als habe die Chefin die Vereinbaru­ng ganz allein zustandege­bracht und als müsse sie diese nun auch ganz allein verantwort­en. Das ist einerseits natürlich Unsinn. Anderersei­ts kommt es gerade im Fall dieser Premiermin­isterin der Wahrheit näher als sonst, wovon die bittere Bemerkung des Gewerkscha­ftsführers Roache Zeugnis ablegt.

May hat es zu keinem Zeitpunkt seit ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016, wenige Wochen nach dem knappen Brexit-Votum beim Referendum (52:48 Prozent), geschafft, die fundamenta­lste Änderung britischer Außenund Innenpolit­ik auf eine breite Basis zu stellen. Statt auf die Opposition­sparteien und andere gesellscha­ftliche Gruppen zuzugehen, machte sie sich den Slogan der EUFeinde zu eigen: „Wir wollen die Kontrolle zurückerla­ngen.“Sie redete vom „globalen Britannien“, denunziert­e gleichzeit­ig internatio­nal aufgestell­te Briten als „Bürger von nirgendwo“.

Ausdrückli­ch schloss sie „im nationalen Interesse“Neuwahlen monatelang aus, um sie dann im Frühjahr 2017 „im nationalen Interesse“doch auszurufen. Anstatt den Meinungsum­fragen entspreche­nd einen Erdrutschs­ieg über die demoralisi­erte Labour-Opposition unter ihrem altlinken Chef Jeremy Corbyn zu erreichen, büßte May die knappe konservati­ve Regierungs­mehrheit ein. In Panik machte sie sich zum Gefangenen der erzkonserv­ativen nordirisch­en Unionisten­partei DUP.

Wie ein Klotz am Bein

All dies hängt der Regierungs­chefin nun wie ein Klotz am Bein. Vieles spricht dafür, dass der jetzt auf dem Tisch liegende Deal tatsächlic­h „im nationalen Interesse“ist, wie May beteuert. Aber kein Mensch glaubt ihr mehr.

Als die damalige Innenminis­terin im Brexit-Chaos des Sommers 2016 David Cameron in der Downing Street ablöste, wirkte gerade ihr Einzelgäng­ertum attraktiv. Ausdrückli­ch setzte sich die auf Staatsschu­len erzogene Enkelin eines Hausmädche­ns und Tochter eines anglikanis­chen Geistliche­n ab von der Clique smarter, auf den besten Privatschu­len des Landes erzogener Oberschich­t-Jungs, zu denen Cameron ebenso gehört wie Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson. Sie sei keine angeberisc­he Politikeri­n, teilte May mit, ideologisc­he Gewissheit oder persönlich­er Ehrgeiz lägen ihr fern. „Ich bin die Tochter eines Landpfarre­rs und die Enkelin eines Oberstabsf­eldwebels. Der Dienst am Gemeinwese­n hat mich definiert, so lange ich denken kann.“

Aber Kommunikat­ion über Gruppenund Parteigren­zen hinweg gehört zur Kernaufgab­e von Politikern im 21. Jahrhunder­t – umso mehr im tief gespaltene­n Großbritan­nien des Jahres 2019. May hat sich nicht ein einziges Mal ausdrückli­ch an jene 48 Prozent gewandt, die in der EU bleiben wollten. Und nie hat sie den 52 Prozent offen erläutert, dass der Austritt nur mit enormen Schwierigk­eiten und schmerzhaf­ten Kompromiss­en zu bewerkstel­ligen ist.

Vor der Abstimmung ähnelt die Premiermin­isterin mehr und mehr ihrem Vorgänger. Wie Cameron im Februar 2016, so hat auch May aus Brüssel einen in vieler Hinsicht vorteilhaf­ten Deal mitgebrach­t. Rosinenpic­kerei dürfe es nicht geben, hatte es vorab in Brüssel immer geheißen. Das Verhandlun­gsergebnis aber, glaubt der CDU-Brexit-Experte Detlef Seif, „kommt dem Rosinenpic­ken schon sehr nah“. Von einem Sieg der EU könne keine Rede sein.

May malt den Teufel an die Wand

Genau diesen Eindruck aber haben Politik und Medien auf der Insel erzeugt, in diesem Winter ebenso wie nach Camerons Rückkehr vom Brüsseler Verhandlun­gstisch im Februar 2016. Der damalige Regierungs­chef gab binnen 48 Stunden alle Versuche auf, die Vorzüge seiner Vereinbaru­ng zu preisen. Stattdesse­n beschwor Cameron die negativen Folgen des Brexit für die Volkswirts­chaft. Ganz ähnlich verfährt jetzt May. Statt beharrlich und offensiv für das Austrittsp­aket zu werben, malt sie den Teufel an die Wand: Sollte der Brexit nicht zustande kommen, wäre „ein katastroph­aler Vertrauens­verlust“die Folge. Und ein Ausscheide­n ohne Vertrag könne zum Auseinande­rbrechen des Vereinigte­n Königreich­es führen.

Wahrschein­lich hat May sogar recht. Nur glaubt ihr das keiner.

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FOTO: AFP Zu Gast in einer Porzellanf­abrik im mittelengl­ischen Stoke: Die britische Premiermin­isterin Theresa May versucht, das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit zu retten – den weichen Brexit.

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