Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Tod mit 87 Jahren
Die unbändige Lust am Provozieren: Zum Tod des Zeichners und Autors Tomi Ungerer
Trauer um den französischen Zeichner Tomi Ungerer
FRANKFURT (epd) - Tomi Ungerer gehörte zu den wenigen Künstlern, die sowohl Erwachsene als auch Kinder begeistern konnten. 2016 erschien ein Buch, das die beiden Linien durch sein Werk zusammenführt: „Warum bin ich nicht du?“Darin antwortete Ungerer auf philosophische Fragen von Kindern – und faszinierte durch subversiven Humor und die Freiheit des Denkens. In der Nacht zum Samstag ist der elsässische Künstler gestorben. Er wurde 87 Jahre alt.
Philosophie für Kinder
Kinder zwischen drei und zwölf Jahren fragen zum Beispiel: „Warum gibt es Geld?“, „Was ist das: Zeit?“oder „Kann man als Toter noch denken?“Ungerers Antworten sind meist Geschichten, sie nehmen die Kinder ernst, auch auf die Gefahr der Überforderung hin. Viele der Antworten gelten eigentlich den Eltern, die nun auf die Fragen ihrer Kinder besser eingehen können.
Die beiden Grundlinien des Philosophienuchs prägen sein gesamtes, außerordentlich umfangreiches Werk: Auf der einen Seite schuf er wunderbar poetische, komische, auch freche Bilderbücher für Kinder, in denen immer wieder auch die Unheimlichkeit des Lebens durchscheint. Andererseits zeichnete er Cartoons für Erwachsene, und selbst in den freundlicheren davon wird aus dem satirischen oft ein unbarmherziger Blick auf Menschen, die einander quälen. In Büchern wie „The Party“oder „Babylon“steigert sich die bissige Karikatur zur apokalyptischen Vision.
Trotzdem ist Ungerer kein Sadist. Hinter diesen Zeichnungen steckt Verzweiflung und Trauer über die Selbstzerstörung des Menschen. Doch es finden sich auch Gegenbilder: „Das große Liederbuch“etwa, an dem er fünf Jahre gearbeitet hat, vielleicht sein Hauptwerk. Es ist eine von vielen Zeichnungen begleitete Sammlung deutscher Volks- und Kinderlieder – eine Art rückwärtsgewandte Utopie einer noch heilen Welt, deren Motive er in seiner elsässischen Heimat gefunden hat. Ungerer hat aber auch das Lied „Ich hatt' einen Kameraden“aufgenommen und mit Kreuzen eines Soldatenfriedhofs illustriert.
Jean Thomas Ungerer, genannt Tomi, wurde am 28. November 1931 in Straßburg geboren. Er schmiss das Abitur, trampte durch Europa, begann schließlich 1953 ein Kunststudium in Straßburg. Er arbeitete als Schaufensterdekorateur, machte viele Reisen, die wichtigste 1956 nach New York.
1957 wurde das für ihn entscheidende Jahr: Er setzte sich als Zeichner durch, wurde in „Esquire“, „Life“und der „New York Times“gedruckt. Auch sein erstes Kinderbuch „The Mellops Go Flying“erschien 1957. Im selben Jahr lernte er den jungen Verleger Daniel Keel kennen, alle seine Bücher kamen seitdem in Keels Diogenes Verlag in Zürich heraus. Keel starb 2011, damit endete eine jahrzehntelange Freundschaft.
Ungerers künstlerische Laufbahn ging steil nach oben, mit zahlreichen erfolgreichen Büchern, Ausstellungen, Preisen. 1993 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, 1995 den Großen Nationalpreis Frankreichs. 2007 wurde das Musée Tomi Ungerer in Straßburg eröffnet.
2018 verlieh ihm das Land BadenWürttemberg die Ehrenprofessorwürde. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) lobt seinen Einsatz für die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen. Zugleich zeigte er sich beeindruckt von der unerschöpflichen Schaffenskraft Ungerers und seiner Unerschrockenheit anzuecken. Ungerer sei „immer ein Lausbub geblieben, dem die Lust am Provozieren nie abhandengekommen ist“, sagte Kretschmann.
Während Ungerers Ruhm immer größer wurde, zog er sich aus den Metropolen in die Provinz zurück. 1970 ging er nach Nova Scotia in Kanada, 1976 in den Südwesten Irlands, wo er seitdem im Wechsel mit Straßburg lebte. Er unterstützte auch soziale Aktivitäten, den Kampf gegen Aids, das Rote Kreuz, Initiativen für Tierschutz. Als überzeugter Pazifist hat er immer wieder gegen den Krieg Stellung genommen. Eines seiner Plakate zeigt einen toten US-Soldaten, darunter die Frage: „What Now?“.
Zu Ungerers schönsten Veröffentlichungen gehörten drei autobiografische Bücher, in denen vor allem das Ineinander von Text und Bild fasziniert. In dem Band „Es war einmal mein Vater“rekonstruierte er das Leben seines jung gestorbenen Vaters Théo Ungerer, der ein berühmter Uhrmachermeister war. In „Die Gedanken sind frei – Meine Kindheit im Elsass“erzählte er von den Jahren des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung und der ersten Zeit danach.
Und „Heute hier, morgen fort“beschwört das kanadische Nova Scotia, wo Ungerer und seine Familie unter Bauern und Fischern lebten. Die Bilder aus dieser fast archaischen Welt halten die Balance zwischen Magie und Realismus.