Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Als die Nonnen aus dem Kloster ausziehen mussten
Während des Dritten Reiches machte das NS-Regime Kellenried zum Lager für Slowenen
BERG - Knarzend setzt sich ein Ochsenfuhrwerk in Gang und verlässt das Kloster Kellenried. Geladen sind Möbel, Kreuze, Bilder und andere Kirchenutensilien. Es ist eine kalte und dunkle Novembernacht im Jahr 1940. Die Nachbarschaft und die Bauern in den umliegenden Dörfern helfen dabei mit und unterstützen die Nonnen, das Gebäude zu räumen. Alles, was die Schwestern gepackt haben, wird abtransportiert. Auch der Vater von Roswitha Jehle (geborene Kordeuter) karrt in dieser Nacht Kisten zu seinem Hof in Basenberg (Gemeinde Berg), wo er sie auf dem Dachboden einlagerte und verwahrte – so wie es andere auch getan haben. Was in dieser Nacht passiert ist, hat Roswitha Jehle erst viele Jahre später begriffen, als der Zweite Weltkrieg vorbei war. „Als Kinder durften wir nicht an die Sachen ran. Das war meinem Vater wichtig. Ich weiß aber noch, dass meine Eltern sehr betroffen waren“, erzählt Roswitha Jehle.
NS-Rassenideologie durchsetzen
Nicht immer war das Kloster Kellenried ein Kloster. Als in Deutschland mit Adolf Hitlers Drittem Reich plötzlich alles anders wurde, begann auch für die Kirche, ihre Einrichtungen und die Klöster eine dunkle Zeit. Auch für die Schwestern des Klosters Kellenried in der Gemeinde Berg wurde einiges anders. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges mussten sie ins Exil. Aus dem Gebäude, wo sonst die Nonnen lebten, sollte ein Übergangslager zur Umsiedlung der sogenannten „Volksdeutschen“in Osteuropa werden. Es sollte dazu dienen, die nationalsozialistische Rassenideologie durchzusetzen. Letztendlich kamen aber keine „Volksdeutschen“, sondern 300 Slowenen als sogenannte „Absiedler“, um im Deutschen Reich germanisiert und später als „Wehrbauern“im Osten eingesetzt zu werden. In Wirklichkeit mussten sie Zwangsarbeit für das Deutsche Reich leisten.
Bis heute wirkt die Geschichte in Kellenried nach, auch wenn dieses Kapitel bei vielen in Oberschwaben mittlerweile in Vergessenheit geraten ist. Vergessen kann und wird Roswitha Jehle diese Geschichte aber nicht. Seit ihrer Kindheit ist die Frau aus Fronhofen mit dem Kloster Kellenried und den Schwestern eng verbunden. Als Kind hat sie die Zeit des Krieges miterlebt und hat bis heute Kontakt nach Slowenien, der in den 1940er-Jahren begründet ist
Lagerinsassen arbeiten mit
Damals, so erzählt die heute 82-Jährige, durften die Höfe in der Region Hilfe im Lager Kellenried anfordern, wenn sie Unterstützung in der Landwirtschaft brauchten. „Meine Mutter wollte damals ein Mädchen, das etwas älter war als wir, die auf uns Kinder aufpasst, und die Nachbarn wollten einen Jungen, der auf das Vieh aufpasst. Wir haben die Rosa bekommen und die Nachbarn den Vojko“, sagt sie. Ob Rosa wirklich so geheißen hat, ist sie sich nicht mehr sicher. „Es ist so schade, dass wir da keinen Kontakt haben. Wir haben schon nach ihr gesucht, weil wir sie so gern gehabt haben. Leider haben wir sie nicht gefunden“, erzählt sie. Trotzdem hat Jehle bis heute Kontakt nach Slowenien.
Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurde es im Deutschen Reich für die Kirchen düster. Sie passten nicht zur NSIdeologie, außerdem zeigten sich die Kirchen oft kritisch gegenüber dem Regime. Viele Kirchenangehörige engagierten sich im Widerstand – unter anderem der katholische Bischof der Diözese Rottenburg, Joannes Baptista Sproll. Spätestens ab 1940, kurz nachdem Österreich und das Sudetenland an das Deutsche Reich angegliedert wurden, begann für die Klöster die Zeit der Angst. Nach und nach beschlagnahmte das NS-Regime immer mehr Klöster. Am 31. Oktober 1940 erfuhr schließlich der Konvent in Kellenried, das diese Gefahr mittlerweile in der Nachbarschaft Realität wurde: unter anderem wurden die Klöster Weingarten, Reute und Blönried beschlagnahmt.
Nur einen Tag nach dieser Nachricht, am 1. November 1940, erschien eine Kommission der Ravensburger NSDAP mit Kreisleiter Carl Rudorf in Kellenried. Sie erzwangen den Zutritt zum Benediktinerinnenkloster, um das Gebäude zu inspizieren. Rudorf soll auf den Boden gestampft und geschrien haben: „Machen Sie die Tür auf, sonst schlagen wir sie ein!“Selbst vor der Klausur, also jenem Bereich eines Klosters, der den Schwestern vorbehalten ist, machten sie nicht halt. Kurz darauf wurde das Gebäude als beschlagnahmt erklärt. Der Protest der Äbtissin und der Schwestern nützte nichts. Nach einem Widerspruch der Bistumsleitung erklärte ein Telegramm am 2. November 1940 schließlich kurz und knapp: „Das Kloster muss bis Dienstag, 12. November, nachmittags 14.00 Uhr, einem von mir Beauftragten übergeben werden. Heil Hitler! Drauz, Einsatzführer.“Allein in der Diözese Rottenburg sind 23 Klöster und katholische Einrichtungen beschlagnahmt worden – reichsweit waren es deutlich mehr als 200. Nur ein paar Schwestern durften auf dem benachbarten Hof Marschall weiter wohnen, um die zum Hof gehörige Landwirtschaft zu bewirtschaften.
Der Weg führt nach Schloss Zeil
Die Gebäude sollten zu Umsiedlungszwecken dienen. Nach Hitlers Vorstellungen sollten die Deutschen die annektierten Gebiete in Osteuropa besiedeln („Lebensraum im Osten“) und die „Volksdeutschen“, die außerhalb des Deutschen Reiches in Osteuropa lebten, „heim ins Reich“geholt werden. Das Kloster Kellenried sollte Deutschen aus Bessarabien, einem Gebiet in der heutigen Republik Moldau, als vorübergehende Unterkunft dienen. Im Hitler-Stalin-Pakt wurde Bessarabien der Sowjetunion zugesprochen und damit gleichzeitig die Umsiedlung der Deutschen festgelegt, die dann in Lagern – auch im Süden des Deutschen Reiches – unterkommen mussten.
Nach dem Räumungsbescheid mussten die Nonnen packen und das Kloster verlassen. Für die Schwestern begannen 1940 fünf Jahre im Exil. In bis zu zehn Zufluchtsorten sind die Nonnen aus Kellenried untergekommen. Von Anfang an war Schloss Zeil bei Leutkirch ein solcher Ort, wo Erich Fürst von Waldburg zu Zeil einigen Schwestern ein Dach anbot. Er war Neffe von Priorin Placida zu Salm-Reifferscheid. Mit der Zeit war Schloss Zeil der größte Zufluchtsort und wurde zwischenzeitlich sogar zur „Abtei“erhoben. Wie alle im Reich mussten auch die Schwestern für die Kriegswirtschaft arbeiten, sie waren dort in der Waldwirtschaft eingesetzt, konnten aber auf Schloss Zeil ein fast normales klösterliches Leben führen.
Zimmer voller Ungeziefer
Während die Schwestern im Exil lebten, stand das Klostergebäude ein Jahr lang leer, da die geplanten Umsiedler aus Bessarabien nie angekommen waren. Erst 1941, am 25. November, wurde das Kloster schließlich doch bevölkert. Es kamen die ersten Slowenen in Kellenried an, die der Lagerleiter Sailer höchst persönlich in Zagreb abholte. Es handelte sich aber laut Nazi-Ideologie nicht um sogenannte „volksdeutsche“Umsiedler, sondern um zwangsdeportierte Slowenen aus dem damaligen Jugoslawien. Die jugoslawische Region Slowenien war zu dieser Zeit bereits von der Wehrmacht besetzt. Wie alle slowenischen Deportierten sollten die in Kellenried „eingedeutscht“werden. Auch die slowenischen Regionen Untersteiermark und Oberkrain sollten nach den Plänen Hitlers wieder – wie vor dem Ersten Weltkrieg, als diese Teil von Österreich waren – „deutsch“werden. Das slowenische Volkstum sollte verschwinden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Lager Kellenried schließlich aufgelöst. Doch erst im August 1945 durften die Slowenen wieder in ihre Heimat zurück. Nach Aufzeichnungen der Kellenrieder Klosterchronik waren die Zimmer des Klosters verwüstet und voll mit Ungeziefer. Sie mussten von den Schwestern mit großem Aufwand und sogar professionell mit Gas gereinigt werden. Am Christkönigsfest Ende November 1945 konnte die Gemeinschaft endlich wieder einziehen. Doch der komplette Wiederaufbau dauerte fast zwei Jahrzehnte.
Die Slowenen waren weg, doch auch nach dem Krieg blieb der Kontakt zwischen einigen Menschen bestehen. So wie der von Roswitha Jehle mit jenem Vojko, der als Viehhüter bei den Nachbarn unterkam. In den 1950er-Jahren kam Vojko Cerovsek wieder für ein Praktikum nach Ravensburg und durfte wieder bei den Nachbarn wohnen. „Immer wenn er da war, sind wir am Wochenende zusammen weggegangen, zum Tanzen oder zu Festen, sogar sonntags ist er mit uns in die Kirche gegangen, auch wenn das nicht so sein Ding war“, berichtet Roswitha Jehle. „Wir haben uns immer gefreut, wenn er kam. Da war was los.“Denn auch während seines Architekturstudiums in Ljubljana kam er immer wieder nach Oberschwaben, um sich etwas dazuzuverdienen.
Ein Besuch in Slowenien
Nach dem Studium hat Vojko Cerovsek, da war er schon längst verheiratet, sogar für eine Weile in Aulendorf als Architekt gearbeitet. Erst vor einigen Jahren sind schließlich Roswitha Jehle und ihr Mann nach Slowenien zu Besuch gefahren. Dort haben sie Vojko und seine Familie besucht. „Wir sind so herzlich empfangen worden und er hat uns so viel gezeigt – jeden Tag“, erzählt Roswitha Jehle. Auch Vojkos Schwester Ivanka haben sie besucht, die während der Zeit der Deportation in Oberschwaben zur Welt kam. Selbst nach seinem Tod blieb der Kontakt zu Vojkos Ehefrau und seiner Schwester erhalten – und er hält bis heute. Seine Geschichte, wie Vojko nach Kellenried deportiert wurde, hat er nie aufgeschrieben. „Ich habe ihn immer darum gebeten. Aber er sagte nur: ,Das kann ich nicht.’ Da wäre wahrscheinlich zu viel wieder hochgekommen“, sagt Roswitha Jehle. Ihre Geschichte wird aber immer lebendig bleiben.
Quellen: „Frauen, die das Leben lieben“, OVR und „Im Exil 1940-1945 – Die Benediktinerinnen von Kellenried während des Dritten Reichs“, Inge Steinsträßer, LIT-Verlag
Weitere Texte und Videos rund um das Kloster Kellenried gibt es in einem Online-Dossier der „Schwäbischen Zeitung“unter der Adresse