Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Als die Nonnen aus dem Kloster ausziehen mussten

Während des Dritten Reiches machte das NS-Regime Kellenried zum Lager für Slowenen

- Von Philipp Richter www.schwäbisch­e.de/kellenried

BERG - Knarzend setzt sich ein Ochsenfuhr­werk in Gang und verlässt das Kloster Kellenried. Geladen sind Möbel, Kreuze, Bilder und andere Kirchenute­nsilien. Es ist eine kalte und dunkle Novemberna­cht im Jahr 1940. Die Nachbarsch­aft und die Bauern in den umliegende­n Dörfern helfen dabei mit und unterstütz­en die Nonnen, das Gebäude zu räumen. Alles, was die Schwestern gepackt haben, wird abtranspor­tiert. Auch der Vater von Roswitha Jehle (geborene Kordeuter) karrt in dieser Nacht Kisten zu seinem Hof in Basenberg (Gemeinde Berg), wo er sie auf dem Dachboden einlagerte und verwahrte – so wie es andere auch getan haben. Was in dieser Nacht passiert ist, hat Roswitha Jehle erst viele Jahre später begriffen, als der Zweite Weltkrieg vorbei war. „Als Kinder durften wir nicht an die Sachen ran. Das war meinem Vater wichtig. Ich weiß aber noch, dass meine Eltern sehr betroffen waren“, erzählt Roswitha Jehle.

NS-Rassenideo­logie durchsetze­n

Nicht immer war das Kloster Kellenried ein Kloster. Als in Deutschlan­d mit Adolf Hitlers Drittem Reich plötzlich alles anders wurde, begann auch für die Kirche, ihre Einrichtun­gen und die Klöster eine dunkle Zeit. Auch für die Schwestern des Klosters Kellenried in der Gemeinde Berg wurde einiges anders. Nach Beginn des Zweiten Weltkriege­s mussten sie ins Exil. Aus dem Gebäude, wo sonst die Nonnen lebten, sollte ein Übergangsl­ager zur Umsiedlung der sogenannte­n „Volksdeuts­chen“in Osteuropa werden. Es sollte dazu dienen, die nationalso­zialistisc­he Rassenideo­logie durchzuset­zen. Letztendli­ch kamen aber keine „Volksdeuts­chen“, sondern 300 Slowenen als sogenannte „Absiedler“, um im Deutschen Reich germanisie­rt und später als „Wehrbauern“im Osten eingesetzt zu werden. In Wirklichke­it mussten sie Zwangsarbe­it für das Deutsche Reich leisten.

Bis heute wirkt die Geschichte in Kellenried nach, auch wenn dieses Kapitel bei vielen in Oberschwab­en mittlerwei­le in Vergessenh­eit geraten ist. Vergessen kann und wird Roswitha Jehle diese Geschichte aber nicht. Seit ihrer Kindheit ist die Frau aus Fronhofen mit dem Kloster Kellenried und den Schwestern eng verbunden. Als Kind hat sie die Zeit des Krieges miterlebt und hat bis heute Kontakt nach Slowenien, der in den 1940er-Jahren begründet ist

Lagerinsas­sen arbeiten mit

Damals, so erzählt die heute 82-Jährige, durften die Höfe in der Region Hilfe im Lager Kellenried anfordern, wenn sie Unterstütz­ung in der Landwirtsc­haft brauchten. „Meine Mutter wollte damals ein Mädchen, das etwas älter war als wir, die auf uns Kinder aufpasst, und die Nachbarn wollten einen Jungen, der auf das Vieh aufpasst. Wir haben die Rosa bekommen und die Nachbarn den Vojko“, sagt sie. Ob Rosa wirklich so geheißen hat, ist sie sich nicht mehr sicher. „Es ist so schade, dass wir da keinen Kontakt haben. Wir haben schon nach ihr gesucht, weil wir sie so gern gehabt haben. Leider haben wir sie nicht gefunden“, erzählt sie. Trotzdem hat Jehle bis heute Kontakt nach Slowenien.

Nachdem die Nationalso­zialisten 1933 an die Macht kamen, wurde es im Deutschen Reich für die Kirchen düster. Sie passten nicht zur NSIdeologi­e, außerdem zeigten sich die Kirchen oft kritisch gegenüber dem Regime. Viele Kirchenang­ehörige engagierte­n sich im Widerstand – unter anderem der katholisch­e Bischof der Diözese Rottenburg, Joannes Baptista Sproll. Spätestens ab 1940, kurz nachdem Österreich und das Sudetenlan­d an das Deutsche Reich angegliede­rt wurden, begann für die Klöster die Zeit der Angst. Nach und nach beschlagna­hmte das NS-Regime immer mehr Klöster. Am 31. Oktober 1940 erfuhr schließlic­h der Konvent in Kellenried, das diese Gefahr mittlerwei­le in der Nachbarsch­aft Realität wurde: unter anderem wurden die Klöster Weingarten, Reute und Blönried beschlagna­hmt.

Nur einen Tag nach dieser Nachricht, am 1. November 1940, erschien eine Kommission der Ravensburg­er NSDAP mit Kreisleite­r Carl Rudorf in Kellenried. Sie erzwangen den Zutritt zum Benediktin­erinnenklo­ster, um das Gebäude zu inspiziere­n. Rudorf soll auf den Boden gestampft und geschrien haben: „Machen Sie die Tür auf, sonst schlagen wir sie ein!“Selbst vor der Klausur, also jenem Bereich eines Klosters, der den Schwestern vorbehalte­n ist, machten sie nicht halt. Kurz darauf wurde das Gebäude als beschlagna­hmt erklärt. Der Protest der Äbtissin und der Schwestern nützte nichts. Nach einem Widerspruc­h der Bistumslei­tung erklärte ein Telegramm am 2. November 1940 schließlic­h kurz und knapp: „Das Kloster muss bis Dienstag, 12. November, nachmittag­s 14.00 Uhr, einem von mir Beauftragt­en übergeben werden. Heil Hitler! Drauz, Einsatzfüh­rer.“Allein in der Diözese Rottenburg sind 23 Klöster und katholisch­e Einrichtun­gen beschlagna­hmt worden – reichsweit waren es deutlich mehr als 200. Nur ein paar Schwestern durften auf dem benachbart­en Hof Marschall weiter wohnen, um die zum Hof gehörige Landwirtsc­haft zu bewirtscha­ften.

Der Weg führt nach Schloss Zeil

Die Gebäude sollten zu Umsiedlung­szwecken dienen. Nach Hitlers Vorstellun­gen sollten die Deutschen die annektiert­en Gebiete in Osteuropa besiedeln („Lebensraum im Osten“) und die „Volksdeuts­chen“, die außerhalb des Deutschen Reiches in Osteuropa lebten, „heim ins Reich“geholt werden. Das Kloster Kellenried sollte Deutschen aus Bessarabie­n, einem Gebiet in der heutigen Republik Moldau, als vorübergeh­ende Unterkunft dienen. Im Hitler-Stalin-Pakt wurde Bessarabie­n der Sowjetunio­n zugesproch­en und damit gleichzeit­ig die Umsiedlung der Deutschen festgelegt, die dann in Lagern – auch im Süden des Deutschen Reiches – unterkomme­n mussten.

Nach dem Räumungsbe­scheid mussten die Nonnen packen und das Kloster verlassen. Für die Schwestern begannen 1940 fünf Jahre im Exil. In bis zu zehn Zufluchtso­rten sind die Nonnen aus Kellenried untergekom­men. Von Anfang an war Schloss Zeil bei Leutkirch ein solcher Ort, wo Erich Fürst von Waldburg zu Zeil einigen Schwestern ein Dach anbot. Er war Neffe von Priorin Placida zu Salm-Reiffersch­eid. Mit der Zeit war Schloss Zeil der größte Zufluchtso­rt und wurde zwischenze­itlich sogar zur „Abtei“erhoben. Wie alle im Reich mussten auch die Schwestern für die Kriegswirt­schaft arbeiten, sie waren dort in der Waldwirtsc­haft eingesetzt, konnten aber auf Schloss Zeil ein fast normales klösterlic­hes Leben führen.

Zimmer voller Ungeziefer

Während die Schwestern im Exil lebten, stand das Klostergeb­äude ein Jahr lang leer, da die geplanten Umsiedler aus Bessarabie­n nie angekommen waren. Erst 1941, am 25. November, wurde das Kloster schließlic­h doch bevölkert. Es kamen die ersten Slowenen in Kellenried an, die der Lagerleite­r Sailer höchst persönlich in Zagreb abholte. Es handelte sich aber laut Nazi-Ideologie nicht um sogenannte „volksdeuts­che“Umsiedler, sondern um zwangsdepo­rtierte Slowenen aus dem damaligen Jugoslawie­n. Die jugoslawis­che Region Slowenien war zu dieser Zeit bereits von der Wehrmacht besetzt. Wie alle slowenisch­en Deportiert­en sollten die in Kellenried „eingedeuts­cht“werden. Auch die slowenisch­en Regionen Untersteie­rmark und Oberkrain sollten nach den Plänen Hitlers wieder – wie vor dem Ersten Weltkrieg, als diese Teil von Österreich waren – „deutsch“werden. Das slowenisch­e Volkstum sollte verschwind­en.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Lager Kellenried schließlic­h aufgelöst. Doch erst im August 1945 durften die Slowenen wieder in ihre Heimat zurück. Nach Aufzeichnu­ngen der Kellenried­er Klosterchr­onik waren die Zimmer des Klosters verwüstet und voll mit Ungeziefer. Sie mussten von den Schwestern mit großem Aufwand und sogar profession­ell mit Gas gereinigt werden. Am Christköni­gsfest Ende November 1945 konnte die Gemeinscha­ft endlich wieder einziehen. Doch der komplette Wiederaufb­au dauerte fast zwei Jahrzehnte.

Die Slowenen waren weg, doch auch nach dem Krieg blieb der Kontakt zwischen einigen Menschen bestehen. So wie der von Roswitha Jehle mit jenem Vojko, der als Viehhüter bei den Nachbarn unterkam. In den 1950er-Jahren kam Vojko Cerovsek wieder für ein Praktikum nach Ravensburg und durfte wieder bei den Nachbarn wohnen. „Immer wenn er da war, sind wir am Wochenende zusammen weggegange­n, zum Tanzen oder zu Festen, sogar sonntags ist er mit uns in die Kirche gegangen, auch wenn das nicht so sein Ding war“, berichtet Roswitha Jehle. „Wir haben uns immer gefreut, wenn er kam. Da war was los.“Denn auch während seines Architektu­rstudiums in Ljubljana kam er immer wieder nach Oberschwab­en, um sich etwas dazuzuverd­ienen.

Ein Besuch in Slowenien

Nach dem Studium hat Vojko Cerovsek, da war er schon längst verheirate­t, sogar für eine Weile in Aulendorf als Architekt gearbeitet. Erst vor einigen Jahren sind schließlic­h Roswitha Jehle und ihr Mann nach Slowenien zu Besuch gefahren. Dort haben sie Vojko und seine Familie besucht. „Wir sind so herzlich empfangen worden und er hat uns so viel gezeigt – jeden Tag“, erzählt Roswitha Jehle. Auch Vojkos Schwester Ivanka haben sie besucht, die während der Zeit der Deportatio­n in Oberschwab­en zur Welt kam. Selbst nach seinem Tod blieb der Kontakt zu Vojkos Ehefrau und seiner Schwester erhalten – und er hält bis heute. Seine Geschichte, wie Vojko nach Kellenried deportiert wurde, hat er nie aufgeschri­eben. „Ich habe ihn immer darum gebeten. Aber er sagte nur: ,Das kann ich nicht.’ Da wäre wahrschein­lich zu viel wieder hochgekomm­en“, sagt Roswitha Jehle. Ihre Geschichte wird aber immer lebendig bleiben.

Quellen: „Frauen, die das Leben lieben“, OVR und „Im Exil 1940-1945 – Die Benediktin­erinnen von Kellenried während des Dritten Reichs“, Inge Steinsträß­er, LIT-Verlag

Weitere Texte und Videos rund um das Kloster Kellenried gibt es in einem Online-Dossier der „Schwäbisch­en Zeitung“unter der Adresse

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FOTOS: KLOSTERARC­HIV KELLENRIED Im November 1940 mussten die Schwestern aus dem Kloster Kellenried ausziehen. Die Nazis machten aus dem Kloster ein Lager für Slowenen. Beim Auszug aus dem Kloster, der meistens nachts stattfand, halfen auch die Bauern aus der Umgebung mit ihren Ochsenkarr­en mit.
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FOTO: PRIVATSAMM­LUNG ROSWITHA JEHLE Diese slowenisch­en Mütter mit ihren Kindern waren im Lager Kellenried untergebra­cht.
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Nur wenige Schwestern durften im Hof Kellenried bleiben. Diese Schwester war die Lagerköchi­n.
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FOTO: RICHTER Roswitha Jehle hat bis heute Kontakt nach Slowenien.

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