Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vom Siechenhaus zur Seniorenresidenz
Viele Pflegeeinrichtungen von heute gehen auf Stiftungen im Mittelalter zurück
RAVENSBURG - Pflege ist ein Thema, das uns heute stark beschäftigt. Wenig bekannt ist, dass viele unserer modernen Einrichtungen auf Gründungen im Mittelalter zurückgehen. In Oberschwaben begegnet einem fast in jeder Stadt ein Heilig-GeistSpital. Eines befindet sich in Pfullendorf. Edwin Ernst Weber, Kreisarchivar in Sigmaringen, hat eine fast 300Seiten-starke Publikation mit Beiträgen von Historikern über die 750 Jahre währende Geschichte dieser Institution herausgegeben, die 1257 erstmalig erwähnt wird und bis heute im Spitalfonds weiterlebt.
Die Geschichte des Pfullendorfer Spitals ist typisch und wird vom Ehinger Archivar Ludwig Ohngemach eingeordnet in die größere Geschichte (Ober)Schwabens. Fromme Stiftungen sind in Mode im 13. Jahrhundert. Das Bürgertum erstarkt. Die reich gewordenen Bürger hoffen, etwas für ihr Seelenheil tun zu können, wenn sie für Arme und Kranke spenden. Überall entstehen solche Spitäler – in Überlingen, Biberach, Ravensburg, Rottweil, Ulm, Blaubeuren, Tübingen, Ellwangen. Dies sind nur einige Beispiele. Diese Stiftungen ermöglichen vieles. Weber nennt sie „multifunktionale sozialkaritative Einrichtungen“. Er zitiert eine Quelle von 1285. Dort beschreibt der Pfullendorfer Bürgermeister die Aufgaben des Spitals: „Aufnahme von Armen, das Speisen von Hungrigen und Dürstenden, die Beherbergung von Fremden, der Besuch von Kranken, die Fürsorge für arme oder schwangere Frauen und die Versorgung von bedürftigen Kindern.“
Bauern mussten bezahlen
Möglich war dies, weil die Stiftungen auf einem umfangreichen Feudalbesitz beruhten. Wälder gehörten dazu, Häuser und Bauernhöfe. Die Bauern mussten Abgaben ans Spital leisten. Doch sie kamen selten in den Genuss seiner karitativen Leistungen. Die Stiftungen gerieten zunehmend unter städtischen Einfluss. Am Ende profitierten nur noch Stadtbürger von den wohltätigen Einrichtungen. Die Bauern mussten zahlen, aber sie hatten nichts davon.
Weber schreibt: „Die fromme Stiftung präsentiert sich in den drei Jahrhunderten von der Reformation bis zur Mediatisierung der Reichsstadt durch Baden 1803 als wohlhabende Karitativeinrichtung mit einem höchst umfangreichen Feudal- und Eigenbesitz und beträchtlichen, den Stadtetat weit übersteigenden Jahreseinkünften an Naturalien und Geld.“Die Stadtbürger hätten nicht nur die Sozialleistungen des Spitals in Anspruch nehmen können. Sie seien teilweise auch steuerlich entlastet worden und hätten sich der Militärverpflichtung entziehen können. Ludwig Ohngemach spricht von einem „Ressourcentransfer“vom Land in die Stadt.
Der Spitalhaushalt sei zu einem „Reservevermögen“geworden, aus dem sich der Magistrat und die Bürgerschaft „mitunter hemmungslos bedienen“. Städtische Amtsträger ließen sich Wein und Fleisch auf Kosten des Spitals liefern. Der Bischof von Konstanz habe in seiner Funktion als Oberaufseher immer wieder versucht, dies einzudämmen. Offenbar ohne Erfolg.
Spital als Wirtschaftsfaktor
Interessant ist, dass sich die Tätigkeit der Spitäler seit dem Spätmittelalter verlagert hat. Es gab immer mehr sogenannte Pfründner. Das waren Leute, die praktisch wie heute in einer Seniorenresidenz, mit ihren Einlagen ein Wohnrecht und die entsprechende Versorgung erwarben. Weber hat eine Spitalrechnung von 1752/ 53 gefunden. Daraus geht hervor, dass die acht Pfründner – sechs Frauen und zwei Männer – Anspruch haben auf zusammen „363 Laibe Weißbrot, 135 Laibe Schwarzbrot, 29 Eimer 10 Quart Wein und 3 Zentner 23 Pfund Rindfleisch.“
Das Spital war ein Wirtschaftsfaktor – als Arbeitgeber, aber auch als Auftraggeber für Handwerker oder Erntehelfer. Und ein Wirtschaftsfaktor ist die Hospitalstiftung bis heute geblieben, auch wenn sich Organisation und Form verändert haben. Bis in das 20. Jahrhundert hinein konnten mit Mitteln aus der Stiftung Altenheim und Krankenhaus in Pfullendorf finanziert werden. Doch diese Zeiten sind vorbei. Peter Schramm erklärt in seinem Beitrag über das Spital Pfullendorf: „1825 hatte die Stadt Pfullendorf 8320 Gulden Einnahmen und war gleichzeitig hoch verschuldet. Das Spital hingegen hatte in diesem Jahr Einnahmen von 37 002 Gulden und ein riesiges Vermögen.“Doch das habe sich grundlegend geändert, schreibt Schramm. Die Städte haben mehr Einwohner und mehr Einnahmen. Die Kosten im Gesundheitswesen sind so gestiegen, dass das mit den Mitteln aus dem Fonds nicht mehr allein zu finanzieren ist. Dennoch sind bis heute Heilig-Geist-Spitäler in Pfullendorf und anderen Städten Träger oder Gesellschafter eines Altenheims oder Krankenhauses.
Edwin Ernst Weber (Hrsg.): Im Dienst am Nächsten. Das Spital Pfullendorf 1257 - 2018. 288 Seiten. 57 Abbildungen. Gmeiner Verlag Meßkirch 2019. 20 Euro.