Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der letzte Rest wird zu Fernwärme und Strom
Ein Heizkraftwerk in Kempten erzeugt bei der Verbrennung des Mülls Wasserdampf zur Energiegewinnung
KEMPTEN - Der Rest vom Rest ist ein trauriger Haufen. Meterhoch stapelt sich der Metallschrott auf einem ansonsten leeren Hof. Eine merkwürdig verformte Leiter ist zu erkennen, eine Autofelge, der Fuß eines Bürostuhls. Und jede Menge Sprungfedern, die einmal in Matratzen gesteckt haben müssen. Dazu Drähte, Platten und Stangen, bei denen nicht zu erkennen ist, welchem Zweck sie einmal gedient haben könnten.
„Der ist durch den Ofen gegangen“, sagt Thomas Settele und blickt auf den braungrau verfärbten Haufen. „Da sehen Sie mal, was die Leute alles wegschmeißen.“Settele ist der Sprecher des Zweckverbands Abfallwirtschaft Kempten, und damit auch des Müllheizkraftwerks im Kemptener Gewerbegebiet Ursulasried.
650 Kilogramm Haushaltsmüll produziert jeder Deutsche im Jahr. Zwei Drittel davon werden recycelt. Der Rest landet größtenteils im Feuer, denn Müll darf seit 2005 in Deutschland nicht mehr einfach auf die Deponie gekippt werden. Das Verbot soll das Entstehen von Faulgasen verhindern und das Grundwasser schützen. Deswegen wird Müll vor der Deponierung behandelt. In manchen Regionen landet er in mechanisch-biologischen Abfallbehandlungsanlagen, meist aber wird er verbrannt. Wenn man Rohstoffe nicht im Kreislauf halten kann, dann sollen sie wenigstens der Energiegewinnung dienen. In Kempten wird durch das Verbrennen des Mülls Wasserdampf erzeugt, der Fernwärme für 17 000 Haushalte und Strom für 21 000 Haushalte liefert.
Die etwa 80 Müllverbrennungsanlagen in Deutschland decken 3,7 Prozent des nationalen Bedarfs an Strom und Wärme – als Nebenprodukt, denn ihre Hauptaufgabe ist die Müllentsorgung. Grenznahe Regionen lassen den Abfall aus Kapazitätsgründen teils in der Schweiz verfeuern. Ansonsten bedient ein Müllofen mehrere Landkreise. Weite Teile Oberschwabens liefern ihren Müll nach Ulm-Donautal. Das Kemptener Kraftwerk gehört den Landkreisen Oberallgäu und Lindau sowie der Stadt Kempten. Verheizt werden hier auch die Haushaltsabfälle aus den Landkreisen Ravensburg und Ostallgäu und aus dem Außerfern in Tirol.
Was die Lastwagen anliefern, landet über eine Müllrutsche zunächst in einem gigantischen Bunker. Er sieht aus wie der Geldspeicher von Dagobert Duck in Entenhausen – nur, dass er nicht mit Talern gefüllt ist, sondern mit Abfall.
„Heute ist eher wenig drin“, sagt Kranführer Eugen Lochbihler, der in einer Kabine 20 Meter über dem Müll thront. „Manchmal reicht der fast bis hier hoch.“Der 54-Jährige befüllt die beiden Öfen, hält die Ausgänge der Müllrutschen frei und schichtet den Abfall laufend um. Das soll unter anderem verhindern, dass Glutnester zu einer Gefahr werden. Etwa, weil jemand heiße Zigarettenstummel in den Abfall geworfen hat.
Lochbihler senkt den Kran in den Müll und zieht ein Gemisch aus Folien und Säcken heraus. Auch ein Sofa hängt im Greifer. Bis zu drei Tonnen Müll kann der Kran auf einmal in einen der Betontrichter an der Seite des Bunkers hieven. Von dort rutscht der Müllmix in die Flammen.
Oder auch nicht. Das Sofa bleibt schräg auf dem Rand des Trichters hängen. Lochbihler schert sich nicht darum. „Das zieh’ ich beim nächsten Mal mit rüber“, sagt er. Da fällt das Möbelstück schon mit einem lauten Rumms auf den Müllberg zurück.
Sofas und Sessel gibt es viele im Bunker, denn hier landet auch Sperrmüll. Man kann Latten, Blumentöpfe und einen grellgrünen Kinderstuhl erkennen. Aber warum ist so viel Plastik da unten, Folien und sogar Petflaschen? Müssten die nicht wiederverwertet werden? „Was hier angeliefert wird, wird verbrannt“, sagt Zweckverbandssprecher Settele. Das Trennen muss vorher stattfinden, im Haushalt und auf dem Wertstoffhof. Wenn jemand sein Plastik partout in den kostenpflichtigen Restmüll werfen will – dann kommt der wertvolle Rohstoff ins Feuer.
Langjähriger Ruf als Giftschleuder
Es gab Zeiten, da hatten Müllverbrennungsanlagen in Deutschland einen miserablen Ruf. In den 1980er-Jahren galten sie als Giftschleudern, vor allem der Ausstoß von Dioxin wurde zum Thema gemacht. Wo eine neue Anlage geplant wurde, regte sich Protest. Das war auch in Kempten so, als es um den Neubau des 1996 eröffneten Müllofens ging. „Sieht Kempten bald aus wie Klein-Kalkutta?“sei damals in der „Allgäuer Zeitung“gefragt worden, erinnert sich Thomas Settele. Die Aufregung habe sich aber längst gelegt. Wenn er bei der Allgäuer Festwoche den Infostand seines Zweckverbands aufbaue, sagt Settele, dann beschwerten sich die Leute eher über das unbequeme Bringsystem für den Plastikmüll – aber nicht über das Kraftwerk in Ursulasried.
In einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 heißt es über die Müllverbrennungsanlagen, die Dioxinbelastung sei wegen der strengen Luftreinhaltevorschriften auf ein Tausendstel im Vergleich zu 1990 gesunken. Verbreitet wurde dieser Befund nicht etwa vom Bundesverband der Entsorgungsunternehmen, sondern von der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Mehr noch: Die Müllheizkraftwerke würden die Luft sogar sauberer machen, weil die Energiegewinnung durch das Verfeuern von Müll weniger Schadstoffe freisetzt, als wenn die gleiche Menge an Strom in einem Kohlekraftwerk erzeugt würde.
„Das gilt auch heute noch“, sagt Florian Knappe, Experte für Kreislaufwirtschaft beim Heidelberger Institut für Energie- und Umweltforschung. In Zukunft werde sich die Rechnung aber ändern: „Je größer der Anteil erneuerbarer Energie am Energiemix wird, desto schlechter stehen im Vergleich Müllverbrennungsanlagen da.“Eine Studie des Umweltbundesamtes geht davon aus, dass Müll künftig zunehmend eher für die Wärme- als für die Stromproduktion verwendet werden wird.
In Göppingen regt sich Protest
Der Protest gegen die Verfeuerung von Müll ist auch deswegen abgeebbt, weil die Betreiber ihre Anlagen kaum noch erweitern. Eine Ausnahme ist die Müllverbrennungsanlage in Göppingen. Dort plant der Eigentümer, ein chinesischer Investor, die Kapazität um 22 000 auf dann bis zu 180 000 Tonnen Müll pro Jahr auszubauen. Prompt hat sich eine Bürgerinitiative dagegen gebildet. „Die zusätzliche Kapazität ist für den Bedarf im Kreis Göppingen in keinster Weise notwendig“, sagt der Göppinger HNO-Arzt und Müllverbrennungsgegner Michael Jaumann. „Mehr Verbrennung macht mehr Probleme, mehr Quecksilber, mehr Feinstaub.“
Genau das bestreitet Thomas Settele im Fall des Kemptener Kraftwerks. Mit Stolz präsentiert er die hintereinandergeschalteten Luftfilter. Die würden sämtliche Schadstoffe herausfiltern. „Aus dem Schornstein kommt heiße Luft“, sagt er.
Der Abfall selbst bleibt eine Stunde lang im 1000 Grad heißen Ofen, die Flammen schlagen bis zu zehn Meter hoch. Anschließend wird aus den verbrannten Rückständen noch alles Metallische herausgeholt und verkauft. Übrig bleibt eine gräuliche, grobkörnige Masse, die auf die Deponie Gutenfurt im Kreis Ravensburg gebracht wird. Diese Schlacke ist das letzte, was vom Abfall übrig bleibt – es ist der Rest vom Rest vom Rest.
Wie in Kempten aus Müll Strom und Wärme gewonnen wird, sehen Sie in einer Bildergalerie unter www.schwäbische.de/zak