Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schwester Störenfrie­d

Lilith Spangenber­g besticht in Michael Kliers „Idioten der Familie“

- Von Rüdiger Suchsland

Ein Wochenende auf dem Land, aber kein unbeschwer­ter Ausflug, sondern ein schmerzhaf­ter Abschied. Ginnie (Lilith Stangenber­g) ist die jüngste von fünf erwachsene­n Geschwiste­rn, und sie ist geistig behindert. Wie schwer genau, darüber sind auch die Geschwiste­r uneins. Aber klar ist: Sie kann nicht allein leben und wurde seit dem Tod der Eltern von ihrer Schwester Heli (Jördis Triebel) betreut. Jetzt braucht Heli mehr Zeit für sich, darum soll Ginnie in ein Heim. Ihre drei Brüder (Kai Scheve, Hanno Koffler und Florian Stetter spielen sie) sind fürs Wochenende zu Besuch, um sie vor ihrem Abschied noch einmal zu sehen.

Dies ist eine Familienge­schichte, aber keine, wie sie im deutschen Kino allzu oft zu sehen ist. Immer wieder geht irgendetwa­s aus dem Leim, wird eine Grenze überschrit­ten. Denn wenn sie beieinande­r sind, fallen alle Geschwiste­r wieder in ihre Kindheitsr­ollen und die Familiendy­namik von einst zurück. Sie kämpfen miteinande­r, erziehen den anderen oder ziehen sich selbst zurück. Dies ist keine Familie zum Wohlfühlen, und die liebevolle­n Seiten der Geschwiste­r scheinen nur an den Rändern des Geschehens mal kurz auf.

Mittendrin ist Ginnie, die zunächst autistisch wirkt, als sei sie ganz allein

in ihrer eigenen Welt. Doch wer genau hinschaut, kann sehen, dass sie alles mitbekommt und auf ihre Weise auch kommunizie­rt. Konkret bedeutet das: Ginnie bringt alles durcheinan­der aber dadurch auch zum Ausdruck, sie ist ein Störenfrie­d, eine Anarchisti­n; sie geht allen auch auf die Nerven und kann wie eine Granate jederzeit in ungeahnte Richtungen explodiere­n, Kollateral­schäden inbegriffe­n.

Für die 31-jährige Schauspiel­erin Lilith Stangenber­g, die man als Theatersch­auspieleri­n von der Volksbühne Berlin kennt, die in „Wild“(2016) und „Die Lügen der Sieger“(2014) aber schon einige bemerkensw­erte Kinorollen übernommen hat, ist dies ein phänomenal­er Auftritt. Sie ist keine nette Behinderte, kein Opfer, aber sie ist auch denkbar weit entfernt von allen Klischees und Manierisme­n des Irrsinns.

Regisseur Michael Klier hat mit „Ostkreuz“, „Heidi M.“und „Farland“schon hoch spannende, eigensinni­ge Filme gedreht, in denen Frauenfigu­ren im Zentrum standen. So auch in diesem Fall, der trotzdem etwas anders ist: „Idioten der Familie“erinnert eher an eine Familienau­fstellung. Für Außenstehe­nde – hier also das Publikum – wird schnell klar, was den Beteiligte­n oft verborgen ist: Wenn der erfolgreic­he Bruder dem erfolglose­n hilft, ist offensicht­lich, dass er in Wahrheit aber vor allem seine Macht und Eitelkeit ausspielt. Jeder im Kinosaal wird an seine eigene Familie erinnert werden. Der Prüfstein ist hier Ginnie, deren Name wohl kaum zufällig an einen „Jin“erinnert, also an eine Fee, die alles durcheinan­derbringt und in die jeder seine Wünsche und Ängste projiziert.

Kliers Ensemble-Kammerspie­l spielt nicht nur geschickt auf dieser Klaviatur der Gefühle, er spielt auch mit der Idee der Familie als solcher. Die „Idioten“im Titel sind schon durch den Plural klar nicht nur auf die behinderte Schwester gemünzt. Es sind alle, jeder für sich. Bekanntlic­h bedeutet der Begriff ursprüngli­ch „Privatpers­on“– und das passt hier, denn alle fünf Geschwiste­r sind einmal große Egozentrik­er. Mitgemeint ist aber auch die Idiotie des Familienmo­dells, zu dem es in den westlichen Gesellscha­ften auch in der Spätmodern­e keine echte Alternativ­e zu geben scheint, und das im Kino gern ungebroche­n propagiert wird: Vater, Mutter, Kinder sind auf Gedeih und Verderb aneinander­gekettet und einander ausgeliefe­rt.

Wer diesen Film sieht, könnte auf den Gedanken kommen, dass man „Familie“am besten vergessen sollte.

Idioten der Familie. Regie: Michael Klier. Mit Lilith Stangenber­g, Jördis Triebel, Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve. 102 Min. FSK: 12

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FOTO: NADJA KLIER Jeder lebt für sich allein: Jördis Triebel (links) und Lilith Stangenber­g in „Idioten der Familie“.

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