Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wie eine Oma um ihre Enkel kämpft

Ehefrau und Kinder eines getöteten IS-Kämpfers aus Friedrichs­hafen werden im Norden Syriens festgehalt­en

- Von Stefan Fuchs

- Als Silvio Koblitz im Jahr 2012 in den Dschihad aufbricht, glaubt er an eine gerechte Mission. Heute bezahlt seine Familie für die Verblendun­g des jungen Mannes aus Friedrichs­hafen. Er selbst ist tot, 2017 wurde er vom sogenannte­n Islamische­n Staat hingericht­et, nachdem er sich von ihm distanzier­t hatte. Seine Mutter versucht alles, um ihre Enkelkinde­r aus Syrien zurückzuho­len – ein zäher Kampf mit einem Funken Hoffnung.

Zwei ihrer Enkel hat Gabriele Soppa noch nie gesehen. Das Einzige, was die 50-jährige Altenpfleg­erin aus Friedrichs­hafen am Bodensee von Asiyah (2) und Mohammed (5) hat, sind Handyfotos. Eins davon zeigt den blonden Buben und das kleine Mädchen, fast noch ein Baby, im Inneren eines Zelts. Hinter ihnen hockt die siebenjähr­ige große Schwester Sumeyyah. Ein Schnappsch­uss, entstanden beim Essen. Alle drei blicken skeptisch in die Kamera. Es ist ein heimlich aufgenomme­nes Foto, entstanden im Camp Roj im Nordosten Syriens.

Camp Roj ist eine kleine Zeltstadt im Al-Malikiyah-Distrikt. Hier, im äußersten Zipfel Syriens, nah an der Grenze zur Türkei, werden Familien von IS-Kämpfern von der kurdischen Miliz „Syrische Demokratis­che Kräfte“(SDF) festgehalt­en. Bilder und Videos des Camps zeigen akkurat ausgericht­ete Zelte mit weißen Planen, Maschendra­htzaun und verschleie­rte Frauen. Etwa 2000 Menschen leben hier, die meisten davon Frauen und Kinder. Seit knapp zwei Jahren ist darunter auch Gabriele Soppas Schwiegert­ochter Aischa* mit den drei Enkeln. Die Jüngste hat die Welt außerhalb der Zäune noch nie betreten.

3000 Kilometer Luftlinie entfernt sitzt Gabriele Soppa in einem Café am Bodenseeuf­er. Eine gefasste Frau, die mit ruhiger Stimme von ihrem Schicksal erzählt. Ins Stocken kommt sie nur, wenn sie von ihren Enkelkinde­rn spricht. „Das kann man gar nicht beschreibe­n. Es tut einfach weh.“So leben zu müssen wie die Kinder, kann sie sich nicht vorstellen. Einmal war sie ganz nah bei ihnen, den ganzen Weg nach Syrien hatte sie auf sich genommen, Anträge gestellt, um Erlaubnis gefleht – nur um vor dem Zaun enttäuscht zu werden. „Ich durfte nicht ins Camp, alles war umsonst. Die Gefühle, die da hochkommen, kann man nicht beschreibe­n.“Umso mehr will die Altenpfleg­erin darum kämpfen, dass ihre Enkel wieder nach Deutschlan­d kommen können.

Es ist ein Kampf gegen die Ungewisshe­it und ein zähes Ringen um Auskunft bei Behörden und zuständige­n Stellen. Zahllose Briefe hat Soppa ans Auswärtige Amt geschickt, immer wieder habe man sie vertröstet, erzählt sie. Aus dem Ministeriu­m heißt es, eine konsularis­che Betreuung für deutsche Staatsange­hörige sei nach Schließung der Botschaft in Damaskus faktisch nicht möglich. Es bestehe insbesonde­re zum Camp Roj kein Zugang. Dennoch gibt es einen ersten Erfolg, was Rückholung­en von IS-Angehörige­n angeht. Vier deutsche Kinder, drei Waisen und ein krankes Baby, durften Ende August nach Deutschlan­d zurückkehr­en.

Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“verweist das Ministeriu­m auf eine Äußerung von Außenminis­ter Heiko Maas anlässlich dieser Entwicklun­g. „Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder, die sich bisher in Nordsyrien in Gewahrsam befunden haben, heute das Land verlassen konnten, und wir werden uns dafür einsetzen, dass auch weitere Kinder Syrien verlassen können.“Im Juli hatte ein Berliner Verwaltung­sgericht zudem entschiede­n, dass die Bundesregi­erung verpflicht­et ist, Angehörige von IS-Kämpfern nach Deutschlan­d zurückzuho­len. Gabriele Soppa verfolgt diese Entwicklun­gen, Vertrauen hat sie noch keines.

Derzeit beschränkt sich der Kontakt zu den Enkeln wieder auf Whatsapp-Nachrichte­n. Wann sich Aischa mit den Kindern meldet, weiß Soppa nie im Voraus. „Im Camp sind Handys eigentlich nicht erlaubt. Aber immer wieder geht eins herum, und dann bekomme ich eine Nachricht von einer unbekannte­n Nummer.“Die letzte ist erst wenige Tage alt. „Gabi schau, wenn ich ins Gefängnis komme, vertraue ich meine Kinder dir an. Pass auf sie auf, versuche rauszukrie­gen, welche Hobbies sie haben, und sie zu fördern. Die Bildung und die Förderung meiner Kinder ist mir sehr wichtig“, schreibt Aischa. Wie es den Kindern im Lager geht, ist kaum herauszufi­nden. Die Camps stehen unter Eigenveran­twortung, unter der Nummer der Lagerleitu­ng geht niemand ans Telefon. Hilfsorgan­isationen tun sich schwer in dem Gebiet. Das Internatio­nale Rote Kreuz bedauert, keine genauen Angaben zu den Zuständen dort machen zu können. Man sei in der jüngeren Vergangenh­eit nicht mehr im Camp Roj gewesen, bei früheren Gelegenhei­ten habe man Hilfsgüter und Wasser ins Lager gebracht. Im Norden Syriens zählt die Organisati­on mehr als 5000 schutzbedü­rftige Personen, darunter knapp 3500 Kinder. 124 aus Deutschlan­d zum IS ausgereist­e Erwachsene, davon 90 mit deutscher Staatsbürg­erschaft, und mindestens 117 Kinder sind laut Behördenan­gaben derzeit im Nahen Osten inhaftiert, fast alle in Syrien. Nach den Berichten Aischas gehe es den Enkeln derzeit einigermaß­en gut, sagt Soppa. „Der kleine Mohammed braucht aber dringend eine Brille. Aischa hat vor Monaten einen Antrag gestellt, aber es passiert nichts.“Die Schule im Camp sei mehr Beschäftig­ungstherap­ie als Hort für Unterricht, schreibt Aischa ihrer Schwiegerm­utter. Soppa hat außerdem Angst, dass manche radikalisi­erten Frauen im Lager Einfluss auf die Kinder nehmen könnten.

Eine Angst, die auf einer bitteren Erfahrung gründet. Da der Weg, der für Aischa und die Kinder letztendli­ch ins Camp Roj führt, mit einer Radikalisi­erung beginnt. Silvio Koblitz, Gabriele Soppas damals 25-jähriger Sohn, will 2012 nach Syrien – und seine Frau Aischa, eine junge Frau aus Nordrhein-Westfalen mit türkischen Wurzeln, die er offenbar im Internet kennengele­rnt hat, soll mit. Genau wie die frisch geborene Tochter Sumeyyah. Es ist die Konsequenz einer raschen Radikalisi­erung.

Silvio Koblitz wurde 1987 geboren, nach Stationen in NordrheinW­estfalen und Sigmaringe­n findet die Familie in Friedrichs­hafen ihr Zuhause. Hier geht er zur Schule, wächst mit Mutter, Stiefvater und zwei jüngeren Brüdern behütet auf. Den Islam lernt er über einen Klassenkam­eraden kennen, der ihm den Koran zeigt. „Vorher hat er in der Bibel gelesen, aber die Geschichte­n darin hat er nicht geglaubt“, sagt Soppa. Zuerst betrachtet sie den Glauben ihres Sohnes gelassen, später wird er allerdings immer radikaler. „Irgendwann gab es nur noch Streit. Wir konnten nicht einmal mehr zusammen Gesellscha­ftsspiele spielen – das verbiete ihm der Koran.“

Als die Streitigke­iten kein Ende mehr nehmen, zieht Silvio aus. In Solingen schließt er sich wenig später Millatu Ibrahim an, Deutschlan­ds berüchtigt­ster Salafisten­gemeinde. Er ist mit seinen Solinger Gleichgesi­nnten zusammen, als es am Rande einer Demonstrat­ion zu Ausschreit­ungen mit der Polizei kommt. Ein Bild zeigt ihn im Pulk der Fanatiker, angeklagt wird er nicht. Zu dieser Zeit verbreitet Koblitz, der in seiner Jugend eigene Rap-Songs komponiert hat, IS-Propaganda im Internet, nimmt islamistis­che Gesänge auf, in denen er zum Dschihad auffordert. Es folgen mehrere ergebnislo­se Hausdurchs­uchungen. Einmal öffnet Koblitz der Polizei die Tür, nachdem Nachbarn laute Schreie gehört hatten. Seine Fußsohlen sind verkohlt. Es sei alles in Ordnung, sagt er, Bekannte hätten ihm lediglich den Teufel ausgetrieb­en. „Ich glaube, er hatte schon immer psychische Probleme“, sagt seine Mutter.

Im Mai 2012 sehen sich Mutter und Sohn ein letztes Mal. Gabriele Soppa ist nach Solingen gefahren, sie will die junge Familie besuchen. Im Wohnzimmer – über dem Sofa hängt eine IS-Fahne mit gekreuzten Schwerten – spielt sich eine Szene ab, die sie nicht vergessen kann: „Schon während wir redeten, machte er Situps und Liegestütz­e und dann wollte er noch Laufen gehen. Auf meine Frage, warum er das tue, antwortete er: ,Ich muss.’ Es kam mir vor, als würde er Hausaufgab­en erledigen. Da wusste ich: Er bereitet sich auf etwas vor.“

Nach den Tagen in Solingen bricht der Kontakt ab. Später wird klar, dass die kleine Familie nach Ägypten aufgebroch­en und später nach Syrien weitergere­ist ist. Kurz zuvor hatte der damalige Innenminis­ter Hans-Peter Friedrich (CSU) Millatu Ibrahim zur verbotenen Organisati­on erklärt. Ob Aischa wusste, was auf sie zukommt, ist unklar. Sie selbst schrieb ihrer Schwiegerm­utter später, Silvio habe sie gezwungen und gedroht, die gemeinsame Tochter zu entführen, wenn sie ihm nicht gehorche. Diese Aussage ist aber nicht nachprüfba­r. Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe mit Schwerpunk­t transkultu­relle Psychiatri­e und Traumatolo­gie an der DHVW VillingenS­chwenninge­n, hält dieses Szenario aber durchaus für wahrschein­lich. Er hat zur Rolle der Frau im Dschihad geforscht und sagt: „Es gab zwar in den IS-Hochburgen Kampfverbä­nde aus Frauen, die – in Anführungs­zeichen – für Recht und Ordnung gesorgt haben und dabei brutal und gewalttäti­g vorgingen. Vielen blieb aber vor allem die Rolle als Mutter und der Haushalt vorbehalte­n.“Er betont allerdings, dass sie von den Gräueltate­n der IS-Kämpfer gewusst haben müsse. „In den besetzten Gebieten waren öffentlich­e Exekutione­n auf den Marktplätz­en an der Tagesordnu­ng. Das bekommt man auch als Mutter mit.“In Syrien angekommen, hält sich die Familie in Mansura auf, einer Kleinstadt nahe Rakka. Silvio ist dort Teil einer Art Propaganda­abteilung des sogenannte­n Islamische­n Staates.

Weitere Videos entstehen. In einem ruft er, inzwischen unter dem Kampfnamen Abu-Assam Al Almani („der Deutsche“), dazu auf, den Fliegerhor­st Büchel in Rheinland-Pfalz mit Sprengstof­f zu attackiere­n. In anderen beschwört er den Angriff auf Synagogen und Kirchen. „Wir wollen die Scharia überall, dafür muss es an vielen Orten knallen“, singt er 2013 in einer Videobotsc­haft. 2014 wird Mohammed geboren, ein blonder Junge mit blauen Augen. „Silvios Gehirn muss gewaschen worden sein“, sagt seine Mutter. „Er hat schrecklic­he Fehler gemacht.“Darunter Fehler, die ihn sein Leben kosten.

In den Jahren in Syrien kommt es zum Bruch mit dem „Islamische­n Staat“. In neuen Gesängen distanzier­t sich Kolbitz 2017 von der Führung unter Abu-Bakr Al Baghdadi, in einem Brief schreibt er: „Dass wir gezielt auf nicht am Kampf beteiligte Gruppen oder deren Häuser abzielen, während wir die Kämpfer und deren Stützpunkt­e außer Acht lassen, widerspric­ht meinem Verständni­s von islamgerec­hter Kriegsführ­ung.“In einer Audiobotsc­haft, die er auch seiner Mutter schickt, sagt er: „Ich habe in der Vergangenh­eit Aussagen getätigt und zu vielen Dingen aufgerufen, hinter denen ich heute nicht mehr stehe und die ich so nicht mehr vertrete.“Die Konsequenz­en, davon ist seine Mutter überzeugt, müssen ihm klar gewesen sein. Im Nachhinein ist sie zwar froh darüber, dass er den Aufrufen zur Gewalt an Zivilisten entsagt hat. Im Jahr 2017 jedoch wird Silvio Koblitz nach übereinsti­mmenden Berichten von IS-Schergen hingericht­et.

Für seine Frau und die inzwischen drei Kinder ist die Tat das Signal zur Flucht. Gemeinsam mit der Familie eines oberschwäb­ischen IS-Kämpfers machen sie sich auf den Weg Richtung türkischer Grenze, wo die Reise an einem Kontrollpu­nkt der Kurden-Miliz „Syrische Demokratis­che Kräfte“vorerst endet.

Ob und wann sie nach Deutschlan­d fortgesetz­t wird, ist unklar. Aischa dürfte bei einer geplanten Rückkehr eine genaue Prüfung durch Verfassung­sschutz und BKA erwarten. Zu einzelnen Personen wollen beide Behörden keine Auskunft geben, ein Sprecher des Landeskrim­inalamts erläutert aber: „Wenn jemand nach Baden-Württember­g kommt und es entspreche­nde Erkenntnis­se gibt, wird natürlich überwacht.“Im Bedarfsfal­l gebe es eine Zusammenar­beit mit dem Verfassung­sschutz, Ermittlung­en übernehme die Generalbun­desanwalts­chaft.

Auch wenn der Kontakt vertrauens­voll ist, Gabriele Soppa ist sich bewusst, dass auch ihre Schwiegert­ochter möglicherw­eise Schuld auf sich geladen haben könnte. „Wenn sie etwas Unrechtes getan hat, muss sie die Konsequenz­en tragen. Das ist klar.“Sollte Aischa unschuldig sein, werde sie die Kinder wahrschein­lich im Sinne des Islam erziehen, glaubt Soppa. Querstelle­n würde sie sich in dem Fall nicht, aber: „Ich werde nicht noch einmal die Augen verschließ­en.“Für den Fall, dass die Kinder übergangsw­eise bei ihr unterkomme­n sollten, hat die Friedrichs­hafenerin vorgesorgt. In der Wohnung wartet ein komplett eingericht­etes Kinderzimm­er mit Bettchen, Tisch und Spielsache­n auf die Kinder, die seit zwei Jahren nur ein Zelt als Heimat kennen.

*Name von der Redaktion geändert

Ich durfte nicht ins Camp, alles war umsonst. Gabriele Soppa ist selbst nach Syrien gereist, um ihre Enkelkinde­r im Camp Roj zu besuchen

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FOTO:ANNE JETHON Gabriele Soppa lebt am Bodensee, ihre drei Enkelkinde­r und ihre Schwiegert­ochter müssen im syrischen Camp Roj ausharren. Sie hofft, dass alle nach Deutschlan­d geholt werden können.
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FOTO: PRIVAT Ein Handyfoto zeigt die drei Kinder im Camp in Syrien.

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