Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wie eine Oma um ihre Enkel kämpft
Ehefrau und Kinder eines getöteten IS-Kämpfers aus Friedrichshafen werden im Norden Syriens festgehalten
- Als Silvio Koblitz im Jahr 2012 in den Dschihad aufbricht, glaubt er an eine gerechte Mission. Heute bezahlt seine Familie für die Verblendung des jungen Mannes aus Friedrichshafen. Er selbst ist tot, 2017 wurde er vom sogenannten Islamischen Staat hingerichtet, nachdem er sich von ihm distanziert hatte. Seine Mutter versucht alles, um ihre Enkelkinder aus Syrien zurückzuholen – ein zäher Kampf mit einem Funken Hoffnung.
Zwei ihrer Enkel hat Gabriele Soppa noch nie gesehen. Das Einzige, was die 50-jährige Altenpflegerin aus Friedrichshafen am Bodensee von Asiyah (2) und Mohammed (5) hat, sind Handyfotos. Eins davon zeigt den blonden Buben und das kleine Mädchen, fast noch ein Baby, im Inneren eines Zelts. Hinter ihnen hockt die siebenjährige große Schwester Sumeyyah. Ein Schnappschuss, entstanden beim Essen. Alle drei blicken skeptisch in die Kamera. Es ist ein heimlich aufgenommenes Foto, entstanden im Camp Roj im Nordosten Syriens.
Camp Roj ist eine kleine Zeltstadt im Al-Malikiyah-Distrikt. Hier, im äußersten Zipfel Syriens, nah an der Grenze zur Türkei, werden Familien von IS-Kämpfern von der kurdischen Miliz „Syrische Demokratische Kräfte“(SDF) festgehalten. Bilder und Videos des Camps zeigen akkurat ausgerichtete Zelte mit weißen Planen, Maschendrahtzaun und verschleierte Frauen. Etwa 2000 Menschen leben hier, die meisten davon Frauen und Kinder. Seit knapp zwei Jahren ist darunter auch Gabriele Soppas Schwiegertochter Aischa* mit den drei Enkeln. Die Jüngste hat die Welt außerhalb der Zäune noch nie betreten.
3000 Kilometer Luftlinie entfernt sitzt Gabriele Soppa in einem Café am Bodenseeufer. Eine gefasste Frau, die mit ruhiger Stimme von ihrem Schicksal erzählt. Ins Stocken kommt sie nur, wenn sie von ihren Enkelkindern spricht. „Das kann man gar nicht beschreiben. Es tut einfach weh.“So leben zu müssen wie die Kinder, kann sie sich nicht vorstellen. Einmal war sie ganz nah bei ihnen, den ganzen Weg nach Syrien hatte sie auf sich genommen, Anträge gestellt, um Erlaubnis gefleht – nur um vor dem Zaun enttäuscht zu werden. „Ich durfte nicht ins Camp, alles war umsonst. Die Gefühle, die da hochkommen, kann man nicht beschreiben.“Umso mehr will die Altenpflegerin darum kämpfen, dass ihre Enkel wieder nach Deutschland kommen können.
Es ist ein Kampf gegen die Ungewissheit und ein zähes Ringen um Auskunft bei Behörden und zuständigen Stellen. Zahllose Briefe hat Soppa ans Auswärtige Amt geschickt, immer wieder habe man sie vertröstet, erzählt sie. Aus dem Ministerium heißt es, eine konsularische Betreuung für deutsche Staatsangehörige sei nach Schließung der Botschaft in Damaskus faktisch nicht möglich. Es bestehe insbesondere zum Camp Roj kein Zugang. Dennoch gibt es einen ersten Erfolg, was Rückholungen von IS-Angehörigen angeht. Vier deutsche Kinder, drei Waisen und ein krankes Baby, durften Ende August nach Deutschland zurückkehren.
Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“verweist das Ministerium auf eine Äußerung von Außenminister Heiko Maas anlässlich dieser Entwicklung. „Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder, die sich bisher in Nordsyrien in Gewahrsam befunden haben, heute das Land verlassen konnten, und wir werden uns dafür einsetzen, dass auch weitere Kinder Syrien verlassen können.“Im Juli hatte ein Berliner Verwaltungsgericht zudem entschieden, dass die Bundesregierung verpflichtet ist, Angehörige von IS-Kämpfern nach Deutschland zurückzuholen. Gabriele Soppa verfolgt diese Entwicklungen, Vertrauen hat sie noch keines.
Derzeit beschränkt sich der Kontakt zu den Enkeln wieder auf Whatsapp-Nachrichten. Wann sich Aischa mit den Kindern meldet, weiß Soppa nie im Voraus. „Im Camp sind Handys eigentlich nicht erlaubt. Aber immer wieder geht eins herum, und dann bekomme ich eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.“Die letzte ist erst wenige Tage alt. „Gabi schau, wenn ich ins Gefängnis komme, vertraue ich meine Kinder dir an. Pass auf sie auf, versuche rauszukriegen, welche Hobbies sie haben, und sie zu fördern. Die Bildung und die Förderung meiner Kinder ist mir sehr wichtig“, schreibt Aischa. Wie es den Kindern im Lager geht, ist kaum herauszufinden. Die Camps stehen unter Eigenverantwortung, unter der Nummer der Lagerleitung geht niemand ans Telefon. Hilfsorganisationen tun sich schwer in dem Gebiet. Das Internationale Rote Kreuz bedauert, keine genauen Angaben zu den Zuständen dort machen zu können. Man sei in der jüngeren Vergangenheit nicht mehr im Camp Roj gewesen, bei früheren Gelegenheiten habe man Hilfsgüter und Wasser ins Lager gebracht. Im Norden Syriens zählt die Organisation mehr als 5000 schutzbedürftige Personen, darunter knapp 3500 Kinder. 124 aus Deutschland zum IS ausgereiste Erwachsene, davon 90 mit deutscher Staatsbürgerschaft, und mindestens 117 Kinder sind laut Behördenangaben derzeit im Nahen Osten inhaftiert, fast alle in Syrien. Nach den Berichten Aischas gehe es den Enkeln derzeit einigermaßen gut, sagt Soppa. „Der kleine Mohammed braucht aber dringend eine Brille. Aischa hat vor Monaten einen Antrag gestellt, aber es passiert nichts.“Die Schule im Camp sei mehr Beschäftigungstherapie als Hort für Unterricht, schreibt Aischa ihrer Schwiegermutter. Soppa hat außerdem Angst, dass manche radikalisierten Frauen im Lager Einfluss auf die Kinder nehmen könnten.
Eine Angst, die auf einer bitteren Erfahrung gründet. Da der Weg, der für Aischa und die Kinder letztendlich ins Camp Roj führt, mit einer Radikalisierung beginnt. Silvio Koblitz, Gabriele Soppas damals 25-jähriger Sohn, will 2012 nach Syrien – und seine Frau Aischa, eine junge Frau aus Nordrhein-Westfalen mit türkischen Wurzeln, die er offenbar im Internet kennengelernt hat, soll mit. Genau wie die frisch geborene Tochter Sumeyyah. Es ist die Konsequenz einer raschen Radikalisierung.
Silvio Koblitz wurde 1987 geboren, nach Stationen in NordrheinWestfalen und Sigmaringen findet die Familie in Friedrichshafen ihr Zuhause. Hier geht er zur Schule, wächst mit Mutter, Stiefvater und zwei jüngeren Brüdern behütet auf. Den Islam lernt er über einen Klassenkameraden kennen, der ihm den Koran zeigt. „Vorher hat er in der Bibel gelesen, aber die Geschichten darin hat er nicht geglaubt“, sagt Soppa. Zuerst betrachtet sie den Glauben ihres Sohnes gelassen, später wird er allerdings immer radikaler. „Irgendwann gab es nur noch Streit. Wir konnten nicht einmal mehr zusammen Gesellschaftsspiele spielen – das verbiete ihm der Koran.“
Als die Streitigkeiten kein Ende mehr nehmen, zieht Silvio aus. In Solingen schließt er sich wenig später Millatu Ibrahim an, Deutschlands berüchtigtster Salafistengemeinde. Er ist mit seinen Solinger Gleichgesinnten zusammen, als es am Rande einer Demonstration zu Ausschreitungen mit der Polizei kommt. Ein Bild zeigt ihn im Pulk der Fanatiker, angeklagt wird er nicht. Zu dieser Zeit verbreitet Koblitz, der in seiner Jugend eigene Rap-Songs komponiert hat, IS-Propaganda im Internet, nimmt islamistische Gesänge auf, in denen er zum Dschihad auffordert. Es folgen mehrere ergebnislose Hausdurchsuchungen. Einmal öffnet Koblitz der Polizei die Tür, nachdem Nachbarn laute Schreie gehört hatten. Seine Fußsohlen sind verkohlt. Es sei alles in Ordnung, sagt er, Bekannte hätten ihm lediglich den Teufel ausgetrieben. „Ich glaube, er hatte schon immer psychische Probleme“, sagt seine Mutter.
Im Mai 2012 sehen sich Mutter und Sohn ein letztes Mal. Gabriele Soppa ist nach Solingen gefahren, sie will die junge Familie besuchen. Im Wohnzimmer – über dem Sofa hängt eine IS-Fahne mit gekreuzten Schwerten – spielt sich eine Szene ab, die sie nicht vergessen kann: „Schon während wir redeten, machte er Situps und Liegestütze und dann wollte er noch Laufen gehen. Auf meine Frage, warum er das tue, antwortete er: ,Ich muss.’ Es kam mir vor, als würde er Hausaufgaben erledigen. Da wusste ich: Er bereitet sich auf etwas vor.“
Nach den Tagen in Solingen bricht der Kontakt ab. Später wird klar, dass die kleine Familie nach Ägypten aufgebrochen und später nach Syrien weitergereist ist. Kurz zuvor hatte der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Millatu Ibrahim zur verbotenen Organisation erklärt. Ob Aischa wusste, was auf sie zukommt, ist unklar. Sie selbst schrieb ihrer Schwiegermutter später, Silvio habe sie gezwungen und gedroht, die gemeinsame Tochter zu entführen, wenn sie ihm nicht gehorche. Diese Aussage ist aber nicht nachprüfbar. Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe mit Schwerpunkt transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie an der DHVW VillingenSchwenningen, hält dieses Szenario aber durchaus für wahrscheinlich. Er hat zur Rolle der Frau im Dschihad geforscht und sagt: „Es gab zwar in den IS-Hochburgen Kampfverbände aus Frauen, die – in Anführungszeichen – für Recht und Ordnung gesorgt haben und dabei brutal und gewalttätig vorgingen. Vielen blieb aber vor allem die Rolle als Mutter und der Haushalt vorbehalten.“Er betont allerdings, dass sie von den Gräueltaten der IS-Kämpfer gewusst haben müsse. „In den besetzten Gebieten waren öffentliche Exekutionen auf den Marktplätzen an der Tagesordnung. Das bekommt man auch als Mutter mit.“In Syrien angekommen, hält sich die Familie in Mansura auf, einer Kleinstadt nahe Rakka. Silvio ist dort Teil einer Art Propagandaabteilung des sogenannten Islamischen Staates.
Weitere Videos entstehen. In einem ruft er, inzwischen unter dem Kampfnamen Abu-Assam Al Almani („der Deutsche“), dazu auf, den Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz mit Sprengstoff zu attackieren. In anderen beschwört er den Angriff auf Synagogen und Kirchen. „Wir wollen die Scharia überall, dafür muss es an vielen Orten knallen“, singt er 2013 in einer Videobotschaft. 2014 wird Mohammed geboren, ein blonder Junge mit blauen Augen. „Silvios Gehirn muss gewaschen worden sein“, sagt seine Mutter. „Er hat schreckliche Fehler gemacht.“Darunter Fehler, die ihn sein Leben kosten.
In den Jahren in Syrien kommt es zum Bruch mit dem „Islamischen Staat“. In neuen Gesängen distanziert sich Kolbitz 2017 von der Führung unter Abu-Bakr Al Baghdadi, in einem Brief schreibt er: „Dass wir gezielt auf nicht am Kampf beteiligte Gruppen oder deren Häuser abzielen, während wir die Kämpfer und deren Stützpunkte außer Acht lassen, widerspricht meinem Verständnis von islamgerechter Kriegsführung.“In einer Audiobotschaft, die er auch seiner Mutter schickt, sagt er: „Ich habe in der Vergangenheit Aussagen getätigt und zu vielen Dingen aufgerufen, hinter denen ich heute nicht mehr stehe und die ich so nicht mehr vertrete.“Die Konsequenzen, davon ist seine Mutter überzeugt, müssen ihm klar gewesen sein. Im Nachhinein ist sie zwar froh darüber, dass er den Aufrufen zur Gewalt an Zivilisten entsagt hat. Im Jahr 2017 jedoch wird Silvio Koblitz nach übereinstimmenden Berichten von IS-Schergen hingerichtet.
Für seine Frau und die inzwischen drei Kinder ist die Tat das Signal zur Flucht. Gemeinsam mit der Familie eines oberschwäbischen IS-Kämpfers machen sie sich auf den Weg Richtung türkischer Grenze, wo die Reise an einem Kontrollpunkt der Kurden-Miliz „Syrische Demokratische Kräfte“vorerst endet.
Ob und wann sie nach Deutschland fortgesetzt wird, ist unklar. Aischa dürfte bei einer geplanten Rückkehr eine genaue Prüfung durch Verfassungsschutz und BKA erwarten. Zu einzelnen Personen wollen beide Behörden keine Auskunft geben, ein Sprecher des Landeskriminalamts erläutert aber: „Wenn jemand nach Baden-Württemberg kommt und es entsprechende Erkenntnisse gibt, wird natürlich überwacht.“Im Bedarfsfall gebe es eine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz, Ermittlungen übernehme die Generalbundesanwaltschaft.
Auch wenn der Kontakt vertrauensvoll ist, Gabriele Soppa ist sich bewusst, dass auch ihre Schwiegertochter möglicherweise Schuld auf sich geladen haben könnte. „Wenn sie etwas Unrechtes getan hat, muss sie die Konsequenzen tragen. Das ist klar.“Sollte Aischa unschuldig sein, werde sie die Kinder wahrscheinlich im Sinne des Islam erziehen, glaubt Soppa. Querstellen würde sie sich in dem Fall nicht, aber: „Ich werde nicht noch einmal die Augen verschließen.“Für den Fall, dass die Kinder übergangsweise bei ihr unterkommen sollten, hat die Friedrichshafenerin vorgesorgt. In der Wohnung wartet ein komplett eingerichtetes Kinderzimmer mit Bettchen, Tisch und Spielsachen auf die Kinder, die seit zwei Jahren nur ein Zelt als Heimat kennen.
*Name von der Redaktion geändert
Ich durfte nicht ins Camp, alles war umsonst. Gabriele Soppa ist selbst nach Syrien gereist, um ihre Enkelkinder im Camp Roj zu besuchen