Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sonntagnachmittag im Deutschen Reich
Sonntagnachmittag, gegen 14 Uhr herrscht wieder Ruhe in der Gastwirtschaft. Der Altwirt schnalzt mit den Hosenträgern und setzt sich zu mir. Auftritt wie immer der Knecht eines nahen Bauernhofes. Gleich wird ihm der Altwirt wortlos einen Steinkrug Rotwein an den Stammtisch bringen. Wie jeden Sonntagnachmittag. Dann wird er mir seine Kriegserfahrungen in Russland erzählen. Wie jeden Sonntagnachmittag.
Auftritt eine Magd. Sie kam mit dem Fahrrad von einem Hopfen-Bauernhof in der Nähe Tettnangs. Wie jeden Sonntag setzt sie sich zum Knecht an den Stammtisch. Wortlos, wie jeden Sonntagnachmittag. Gleich wird ihr der Altwirt eine Halbe Bier und einen Stumpen an den Stammtisch bringen. „Und bitte ein Hanuta“, meldet sich der Knecht.
Der Altwirt tut, was ihm gesagt wurde, und setzt seine Erinnerungen an den Krieg am Dnjepr während des Russlandfeldzuges fort. Ich höre zu, mache mir Notizen in mein Tagebuch und beobachte Magd und Knecht. Sie schiebt ihm wortlos den Stumpen hinüber, er schiebt ihr den HanutaSchokokeks herüber. Lächelten sie sich zu? Ich weiß es nicht mehr. Der Altwirt lächelt mir zu und erzählt von seiner glücklichen Heimkehr ins Deutsche Reich in Fildenmoos.
Knecht und Magd trinken noch einen Steinkrug Rotwein und eine Halbe Bier. Er raucht Stumpen, sie genießt den Keks. Der Abschied naht, die Stallarbeit ruft. Der Altwirt spendiert mir eine Halbe Bier und einen selbst gebrannten Zwetschgenschnaps. Wie jeden Sonntagnachmittag. „Hast du alles notiert?“, fragt er mich. Die Gastwirtschaft füllt sich wieder. Vesperzeit. Ich radle heimwärts. „Hat er dir wieder vom Krieg erzählt?“, fragt mich meine Mutter. Ich muss noch meine Lehrprobe für die erste Dienstprüfung ausarbeiten.