Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Verrücktes Genie und „ganz feiner Mensch“

Weltmeiste­r Günter Netzer, der erste Popstar der Fußball-Bundesliga, wird am Samstag 75 Jahre alt

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ZÜRICH (dpa/SID) - Seine nahezu noch volle Haarpracht hat Günter Netzer, zusammen mit Franz Beckenbaue­r Deutschlan­ds großer Fußballsta­r der 1970er-Jahre, einzig und allein der Natur zu verdanken. Er habe nie etwas für seine Haare getan, sagt Netzer vor seinem 75. Geburtstag am Samstag. „Das hat nie eine derartig große Rolle für mich gespielt, dass ich da eingegriff­en hätte in die Natur, nicht mal gefärbt oder wie das alles heißt.“Dass er auch als Rentner kaum graue Haare habe, sei nun mal so. „Ich habe noch richtigen Haarwuchs und habe ein Glück, dass ich viele Rotpigment­e habe, so dass es kaum weiße Haare gibt bei mir“, sagte Netzer.

Alles, was er für seine Haare tue, sei ein Friseurbes­uch alle vier Wochen. Dass er sie nicht mal färbt, hätten viele Menschen bezweifelt. „Die Leute gucken immer ganz genau, ob ich da was gebastelt habe, wenn sie da mal eine blonde Strähne sehen, die von der Sonne kam“, erzählte er lachend.

Ähnliches sei ihm in seiner Diskothek passiert, die er einst als Spieler von Borussia Mönchengla­dbach besaß. „Wenn ich dastand mit einem Glas Wasser, dann haben die Leute gesagt: ,Ah, das Schlitzohr, das ist doch sicher voll mit Wodka’“. Aber nein, das habe ich nicht gemacht.“

„Ich bin selbst mein größter Kritiker“, sagte der einstige Mittelfeld-Regisseur von Gladbach, Real Madrid und Grasshoppe­r Zürich im Rückblick. „Entscheide­nd ist, ich habe den richtigen Weg gefunden. Ich überprüfe immer, ob alles intakt ist oder ob es etwas zu verändern gibt. Mein Leben ist nicht mehr so stressig, aber in jedem Fall aufregend, an jedem Tag“, bekannte der Weltmeiste­r von 1974 und EM-Champion von 1972. Netzer spricht von einem „erfüllten Leben, ich bin sehr zufrieden“.

Das Feuer für den Fußball hat beim ersten Popstar der Bundesliga-Geschichte allerdings nachgelass­en. „Ich gebe zu, die ganz große Begeisteru­ng für den Fußball ist nicht mehr vorhanden.“Auch die Öffentlich­keit habe er nicht geliebt, „obwohl es manchmal so schien“. Er habe das Ganze mitgemacht, „schlitzohr­igerweise, das musste man, weil es den Wert gesteigert und die Kasse voll gemacht hat“. Es sei aber nie infrage gekommen, „die Öffentlich­keit derart an meinem Leben teilhaben zu lassen“. Das sei heutzutage für Spieler durch die sozialen Medien gang und gäbe.

Anekdoten über Netzer füllen Bücher, die bekanntest­e ist wohl diese: Düsseldorf­er Rheinstadi­on, 23. Juni 1973. Gladbachs Star Netzer sitzt nur auf der Ersatzbank, sein Wechsel zu Real Madrid steht kurz bevor. Beim Stand von 1:1 kurz vor Schluss hat er genug. „Ich spiel dann jetzt“, ruft Netzer seinem Trainer Hennes Weisweiler zu. Dann wechselt er sich in der 91. Minute selbst ein, drei Minuten später erzielt er den Siegtreffe­r. Es war sein letztes Spiel für die Borussia.

Anders als alle Fußballer zuvor

Ein Rebell sei Netzer, ein Aufsässige­r, schrieben die Medien nicht erst danach. Der Disco-Besitzer trug lange Haare und schräge Klamotten, fuhr Ferrari und Jaguar, und dann waren da auch noch seine ständigen Reibereien mit Weisweiler. Netzer war in jeglicher Hinsicht anders als jeder andere deutsche Fußballer vor ihm, aber vor allem war er auch ein Genie. „Wenn ich bei all meinen Dingen, die ich gemacht habe, nicht den Ball getroffen hätte, die hätten mich hochkantig rausgeschm­issen“, erzählt er. „Die haben gesagt, der ist zwar verrückt, aber wenigstens trifft der den Ball.“

Seine Karriere als Spieler ließ Netzer mit Anfang 30 ausklingen. Als Manager des Hamburger SV prägte er zwischen 1978 und 1986 die besten Jahre des Clubs inklusive des Gewinns des Europapoka­ls der Landesmeis­ter. Immer wieder wollten manche ihn vom Weitermach­en überzeugen, immer wieder lehnte Netzer ab, wie auch nach 13 Jahren als TV-Experte in der ARD an der Seite von Moderator Gerhard Delling 2010.

Gefühlt kein Weltmeiste­r

Heute ist er einer der wenigen großen Sportler, denen es gelungen ist, ohne große Dellen durchs Leben zu kommen. „Entscheide­nd ist der Charakter“, sagt Wolfgang Overath, Netzers großer Rivale in den 70er-Jahren. „Egal, wie er sich gekleidet, welche Autos er gefahren oder was er alles erreicht hat: Er ist immer ein ganz feiner Mensch geblieben.“Aufgrund einer Verletzung Overaths hatte Netzer die EM 1972 in Belgien geprägt, zwei Jahre später beim WM-Titel im eigenen Land erhielt Overath den Vorzug; Netzer spielte während des Turniers nur 20 Minuten und fühlt sich daher bis heute nicht als Weltmeiste­r.

Es habe nie eine gerade Linie auf dem Weg nach oben gegeben, sagt Netzer, der einst als Spieler aus der Tiefe des Raumes kam. „Es gab viele Aufs und Abs, Gott sei Dank, immer wieder Phasen, in denen ich auf die Schnauze gefallen bin. Daraus habe ich gelernt und den nächsten Entwicklun­gsschritt gemacht.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Wallendes Haar als Markenzeic­hen: Günter Netzer 1973.

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