Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kretschmann will’s noch mal wissen
Ministerpräsident tritt auch 2021 für die Grünen an – Kritik der Opposition
STUTTGART - Seit acht Jahren regiert Ministerpräsident Winfried Kretschmann Baden-Württemberg – und so schnell soll damit auch nicht Schluss sein. Der Grüne will zur Landtagswahl 2021 erneut als Spitzenkandidat antreten. „Ich werde also wieder meinen Hut in den Ring werfen und mich der Partei für eine weitere Kandidatur zur Verfügung stellen“, sagte der 71-Jährige am Donnerstag in Stuttgart. Die Grünen an der Partei- und Fraktionsspitze äußerten sich darüber hocherfreut.
Kretschmann sprach von einem schwierigen Entscheidungsprozess, in den er politische Begleiter, Freunde jenseits der Politik und die Familie einbezogen habe. Aber „zum Schluss muss man das selber entscheiden“, sagte er. Lange Zeit habe für ihn das Alter eine Rolle gespielt. Entscheidend sei aber, ob man sich dem anspruchsvollen Amt körperlich und geistig gewachsen fühle. „Das tu’ ich“, sagte Kretschmann. Er trete für eine ganze Legislaturperiode an. HansUlrich Rülke, Chef der FDP-Landtagsfraktion, bezweifelte das. „Auf fünf weitere Jahre Kretschmann kann sich niemand verlassen.“
Kurz bevor er sich am Donnerstagvormittag der Landespresse erklärte, hatte Kretschmann in einem Brief an die Bürger seine Entscheidung erläutert und zuvor die politischen Freunde und den CDU-Koalitionspartner informiert. Seine Botschaft: In Zeiten großer Umbrüche brauche es Stabilität im Wandel. Als Stichworte nannte er den Transformationsprozess in der Wirtschaft, den Klimawandel und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Darauf hätten die Grünen schon lange die richtigen Antworten, nun sei die Zeit reif. „Das Neue ist, dass das Alte endlich durchgesetzt wird“, sagte er. Die Bürger müssten sich dabei auch auf Zumutungen einstellen. Als solche versteht AfD-Fraktionschef Bernd Gögel eine dritte Amtszeit Kretschmanns. Diese zu verhindern sei „eine der wichtigsten Aufgaben der AfD“.
Seine Kandidatur bedeute nicht gleich einen Sieg für die Grünen, so Kretschmann. Die Spitzenkandidatin der CDU, Kultusministerin Susanne Eisenmann, nannte er eine „respektable Konkurrentin“und sagte: „Wahlkampf ist ein Kampf, und der wird nicht so soft sein.“Sie freue sich darauf, erklärte Eisenmann. „Klar ist: Keiner hat in einer Demokratie das Amt gepachtet.“Wie Kretschmann plädierte auch CDULandeschef Thomas Strobl dafür, noch nicht in einen Wahlkampfmodus zu verfallen. Angriffslustiger äußerte sich CDU-Generalsekretär Manuel Hagel. Personalnot habe bei den Grünen über Vernunft gesiegt. „Den Schlafwagen-Wahlkampf, den sich der Ministerpräsident offenbar derzeit vorstellt, wird es mit uns definitiv nicht geben“, erklärte Hagel.
SPD-Landeschef Andreas Stoch nannte Kretschmanns Kandidatur „wenig überraschend und wenig überzeugend“. Baden-Württemberg brauche aber Tatkraft „und keinen Chefphilosophen“. Der FDP-Landesvorsitzende Michael Theurer warb derweil bereits für ein künftiges Bündnis: „Mit klaren Trendwenden könnten die Grünen unter Kretschmann zukünftig auch Partner für die FDP sein – als Reformmotor einer ökologischen Marktwirtschaft der Zukunft.“
- „Jetzt machen wir das noch mal“, sagt Gerlinde Kretschmann – halb zu sich selbst, halb zu ihrem Mann, mit dem sie an jenem Donnerstagvormittag über die Flure des Stuttgarter Landtags schreitet. Es ist der 12. Mai 2016. Dank Gerlindes Mann Winfried Kretschmann sind die Grünen bei der zurückliegenden Landtagswahl erstmals in der Geschichte der Partei stärkste Kraft in einem Land geworden. Kretschmann ist soeben zum zweiten Mal als Ministerpräsident von Baden-Württemberg vereidigt worden. Dieser Moment könnte sich im Frühjahr 2021 wiederholen. Winfried Kretschmann will’s noch mal wissen. Seit Donnerstag steht fest: Er kandidiert für eine dritte Amtszeit – mit Gerlinde Kretschmanns Segen. „Meine Frau hat schließlich gesagt: Mach das noch mal“, berichtet er vor der Landespresse in Stuttgart.
Hätte Kretschmann abgewunken, wäre das eine Überraschung gewesen. So bestätigt er nun lediglich, was Kenner der Landespolitik erwartet und seine Parteifreunde sehnlichst erhofft hatten. Gesetzt war die erneute Kandidatur aber nicht. Selbst engste Parteifreunde zitterten in den vergangenen Wochen – sie hatten erkannt, dass Kretschmann mit seinem Rückzug nicht nur kokettiert, sondern ernsthaft gehadert hatte. Seine Überlegungen folgten einer inneren Dialektik: Wille zur Macht gepaart mit Verantwortungsgefühl auf der einen, der Wunsch nach dem Rückzug ins Private auf der anderen Seite.
Längst ist Kretschmann in seine Rolle als Ministerpräsident eines der wirtschaftsstärksten und lebenswertesten Bundesländer hineingewachsen. Wurde ihm zur Landtagswahl 2011 noch ein Spitzenteam zur Seite gestellt, sind die Machtstrukturen innerhalb der Regierungsgrünen inzwischen zementiert. Kretschmann ist die Sonne, um die alles kreist. Von der Halbhöhenlage der Villa Reitzenstein, seinem Regierungssitz, strahlt sein Wille hinunter in den Stuttgarter Kessel. Dort sitzen seine Abgeordneten und die Parteizentrale.
Erstaunlich für die Partei der Nonkonformisten: Alles fügt sich, ordnet sich unter – wenn auch manchmal grummelnd oder mal mit moderatem Protest. Denn sie wissen: Sie alle profitieren von Kretschmanns Strahlkraft. Er schafft es wie kein anderer, die Menschen zu begeistern. Seit Jahren führt er mit Abstand die Beliebtheitsskala der deutschen Ministerpräsidenten an. Nur wenn die Grünen Wahlen gewinnen, können sie auch Regierungsverantwortung tragen. Dafür nehmen selbst überzeugte Linke (ja, vereinzelt gibt es sie auch im Südwesten) schmerzhafte Kompromisse in Kauf – etwa das deutschlandweit härteste Polizeigesetz, das die Grünen im Land auf Wunsch des Juniorpartners CDU mitgetragen haben und das nun weiter verschärft werden soll.
Dass er einst ein führender Vertreter des Polit-Establishments werden würde, hätte sich der junge Winfried sicher nicht träumen lassen. Der Lehrersohn, der 1948 in Spaichingen geboren wurde, revoltierte gegen das System. Er verließ das katholische Internat in Riedlingen, wo den Schülern Gehorsam mit Gewalt und Prophezeiungen vom Fegefeuer beigebracht wurde, und wechselte aufs Gymnasium in Sigmaringen. Er kehrte der Kirche den Rücken, statt dem Wunsch des Vaters zu folgen und Priester zu werden. Er blieb in der elften Klasse sitzen und wurde später selbst Lehrer. Während seiner Studienzeit an der Universität Hohenheim war er eine Weile Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands und wurde 1979 Mitbegründer des Grünen-Landesverbands.
Lang sind sie her, die Zeiten des Stürmens und Drängens. Kretschmann hat seine Wurzeln so tief in den bürgerlichen Wertkonservatismus gegraben, dass ihm sein Amtsvorgänger von der CDU, Günther Oettinger, zum 70. Geburtstag bescheinigte: „Manchmal denke ich, Du bist konservativer als ich jemals werden will.“Kretschmanns Parteifreunde auf Bundesebene, die deutlich weiter links stehen, würden dem wohl zustimmen. Bei ihnen ist der konservative Schwabe weit weniger gelitten als bei den Menschen in BadenWürttemberg.
Der bekennende, wenn auch „zweifelnde“Katholik, wie sich Kretschmann selbst bezeichnet, gehört dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an. Nach anfänglichen Scharmützeln mit der fürs Land wichtigen Autoindustrie ist Kretschmann deren treuer Verbündeter. Eher pädagogisch als radikal versucht er, die Branche in Zeiten von Dieselskandal und Klimawandel in ein emissionsfreies Zeitalter zu lenken. Grüne Ur-Überzeugungen von Umwelt- und Naturschutz sind für ihn kein Feigenblatt, sondern Herzensangelegenheit. Beginnt er über die weniger werdenden Insekten auf der Autoscheibe zu sprechen, kann sich seine Stimme vor Erregung über das Artensterben schon mal überschlagen.
So belehrt und unterrichtet Kretschmann bis heute, auch wenn er seinen Beruf vor Jahrzehnten dem politischen Engagement geopfert hat. Er führte die Landtagsgrünen in den 1980er-Jahren und erneut ab 2002 – bis er in einer grün-roten Koalition 2011 zum Ministerpräsidenten aufstieg. Seine Popularität ist seitdem stetig gewachsen: Auch dank guter Strategen im Staatsministerium wurde aus dem knorrigen Eigenbrötler eine Eigenmarke mit großem Ansehen. Kretschmann weiß darum – Kritik verdaut er daher mäßig gut. Nicht selten deutet er solche als Unwissenheit, der er, noch immer ganz der Pädagoge, mit Nachhilfestunden begegnet.
Neben der Sonne Kretschmann verblassen seine grünen Mitstreiter. Dass ein Ministerpräsident sein Kabinett und alle Abgeordneten überstrahlt, ist kein typisches BadenWürttemberg-Phänomen. Und doch ist es wohl eins der größten Versäumnisse Kretschmanns, in den mehr als acht Regierungsjahren keine Nachfolgerin und keinen Nachfolger aufgebaut zu haben. Auch deshalb ist in den vergangenen Monaten der Druck auf ihn stetig gewachsen, eine dritte Amtszeit anzustreben. Seine Gefährten haben ihn bei seinem tief verankerten Verantwortungsbewusstsein gepackt – für das Land, für die Partei. Dass die Person in solchen Überlegungen hintansteht, betont Kretschmann regelmäßig in Anlehnung an ein verbreitetes politisches Credo. Das Drängen hat dem nicht uneitlen Regierungschef aber sicher auch geschmeichelt.
Dennoch: Das Abwägen war nicht einfach. Die Kommunal- und Europawahlen im Mai und die allgemeine Stimmung pro Klimaschutz in Zeiten von „Fridays for Future“haben ihm Mut zum Rückzug gemacht. Die Grünen bräuchten ihn doch nicht unbedingt, um bei der Landtagswahl 2021 ein gutes Ergebnis zu erzielen, so seine Vermutung. Zuletzt hatte er sogar ein Gegenargument seiner politischen Gegner vorgebracht: sein Alter. Es brauche gute Gründe für eine erneute Kandidatur, hatte Kretschmann im Juni in Stuttgart vor Journalisten gesagt. „Ich bin zum Zeitpunkt der Wahl ja dann 72.“
Damit widersprach er früheren Aussagen. 72 sei doch kein Alter, hatte er etwa vor einem Jahr auf einer politischen Reise nach San Francisco gesagt – und zum Beweis auf seinen dortigen Gesprächspartner verwiesen. Kaliforniens Gouverneur Jerry Brown saß zu diesem Zeitpunkt mit 80 Jahren noch fest im Regierungssattel. Den führte er erneut am Donnerstag als Argument an. Das Alter habe bei seinen Erwägungen lange Zeit eine Rolle gespielt, davon sei er aber abgekommen. „Man muss sich fit fühlen und in der Lage sein, das Amt körperlich und geistig zu führen. Das tu ich“, so Kretschmann. Über Monate hat er mit einer erneuten Kandidatur kokettiert – gefragt und ungefragt, aber stets verschmitzt lächelnd. Dass dieses Lächeln zuletzt oft einem nachdenklichen Stirnrunzeln gewichen ist, zeigte Kretschmanns Zerrissenheit.
Denn neben dem Homo Politicus gibt es auch noch den Menschen. Winfried Kretschmann und Gerlinde haben drei erwachsene Kinder. Dank ihres jüngsten Sohnes sind die Kretschmanns bereits zweifache Großeltern. Die Geburt des ersten Enkels 2015 hat den Ministerpräsidenten tief bewegt – und er macht keinen Hehl daraus, dass er sich mehr Zeit für die Familie, für die Enkel wünscht. Die müssen sich mutmaßlich noch etwas länger gedulden – zumindest dann, wenn Kretschmann aus der Landtagswahl 2021 erneut als strahlender Gewinner hervorgehen sollte. Die Entscheidung für eine weitere Kandidatur ist der erste Schritt. Ob Kretschmann eine volle Legislaturperiode regiert, lässt sich aber bezweifeln. Auch wenn er nun sagt, dass es keine Pläne gebe für eine Amtsübergabe auf halber Strecke. Klar sei aber auch: „Man ist ja nicht Prophet in eigener Sache. Wenn einen der Altersstarrsinn bemächtigt, wenn einen die Neugier verlässt, wenn man ungeduldig wird, dann braucht es gute Berater, die sagen: Winfried, es reicht.“
Gibt er das Ruder nach der Hälfte der Zeit ab, um damit einem Nachfolger einen Amtsbonus für die nächste Landtagswahl zu verleihen, ließe sich das mit der schwindenden Kraft eines 75-jährigen Mannes leicht erklären. Und vielleicht bemüht der Katholik Kretschmann ja an jenem Tag einen Vergleich zu einem prominenten Vorbild: Auch ein Papst kann aus gesundheitlichen Gründen abdanken, wie Benedikt XVI. bewiesen hat. Die Tragweite ist freilich eine andere
„Landesgroßvater gefällt mir nicht. Was soll das für einen Sinn machen? Ich hatte ja schon ein Problem mit Landesvater.“ Winfried Kretschmann
„Du bist Deutschlands beliebtester Ministerpräsident. Super, dass Du weitermachen willst! Ein guter Tag für unser Ländle.“ Cem Özdemir, grüner Parteifreund
„Er genießt großes Ansehen und Vertrauen und schafft es, auf besondere Weise Bindekraft für die Breite der Gesellschaft zu entfalten.“ Die Bundesvorsitzenden der Grünen, Annalena Baerbock und Robert Habeck