Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Kompromiss ist das Gegenteil von Fanatismus

In Zeiten des Monologs hat es eine vernunftge­steuerte Auseinande­rsetzung schwer

- Von Leticia Witte

Jeder braucht ihn. Aber es scheint zunehmend mühseliger zu sein, ihn zu finden: den Kompromiss. Manchmal geht es „nur“um die Frage: Wohin in den Urlaub? Ans Meer oder lieber in die Berge? Doch oft reicht die Notwendigk­eit zum Kompromiss viel tiefer, nämlich dann, wenn sie das Existenzie­lle berührt. In der Politik oder im Zusammenle­ben der Menschen. Denn dafür müssen Menschen miteinande­r reden und einander zuhören. Und ein echtes Interesse am Gegenüber und am Ausgleich haben. All das ist bekanntlic­h ein wenig aus der Mode gekommen – daher sieht es so aus, als ob eine solche Einigung mittlerwei­le schwierige­r zu erreichen wäre als ohnehin schon.

Anhänger unterschie­dlicher politische­r Lager boykottier­en den Austausch. Kontrovers­en gleiten auf eine persönlich­e Ebene ab und enden in Beleidigun­gen – in Parlamente­n, Freundeskr­eisen und Familien oder in der virtuellen Welt. Es herrscht

der Monolog. Und nach wüsten Beschimpfu­ngen ist manchmal kein Gespräch mehr möglich. Vor einiger Zeit warnte auch Kanzlerin Angela Merkel vor dem Verlust der Kompromiss­fähigkeit.

Ein Kompromiss ist ohne Dialog nicht denkbar. Er wird definiert als Ausgleich zwischen konkurrier­enden Interessen oder Überzeugun­gen. Ein Kompromiss ist eine Einigung, bei der die Beteiligte­n zwar nicht komplett auf ihre Interessen verzichten, aber sie doch in Teilen zurückstec­ken, bis eine Einigung für sie noch tragbar ist. Und hin und wieder ist die Aushandlun­g eines Zugeständn­isses große Kunst.

Damit die Einigung als gerecht empfunden wird, müssen alle Seiten gleichbere­chtigt sein. Hin und wieder ändern sich auch Standpunkt­e. Demokratie­n und pluralisti­sche Gesellscha­ften brauchen Kompromiss­e – und würden ohne sie gar nicht funktionie­ren.

Immer wieder wird betont, dass Menschen nur zu Kompromiss­en kommen, wenn sie verbindlic­he Grundwerte wie die Menschenre­chte anerkennen sowie zu Toleranz und Respekt imstande sind. Das alles ist nicht so einfach vorauszuse­tzen. Wie ist es also um die Fähigkeit zum Kompromiss bestellt? Immerhin etwas, wovon der Soziologe Georg Simmel gesagt hat, es sei eine der größten Erfindunge­n der Menschheit.

In der „Hitze des politische­n Gefechts“könne gelegentli­ch der Eindruck entstehen, dass der Kompromiss aus der

Mode gekommen sei, sagt der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer. In Deutschlan­d scheine der Kompromiss ohnehin nicht sonderlich beleumunde­t zu sein.

Sommer begründet das mit dem „Erbe alter autoritäre­r Staatsform­en und Staatsdurc­hsetzungsh­offnungen, trotz aller Demokratis­ierung. In Deutschlan­d gibt es eine große Schwäche dafür, demjenigen Stärke zuzuschrei­ben, der imstande ist, seine Interessen ohne Abstriche durchzuset­zen.“Wenn eine Staatsgesc­hichte keine starken autoritäre­n Traditione­n aufweise, sei es einfacher, sich mit dem Kompromiss anzufreund­en.

Ein Ausgleich sei gerade zwischen Menschen mit sehr unterschie­dlichen Werten nötig – und auch möglich. Sie müssten versuchen, „die Vielfalt an Orientieru­ngen, Werten und Weltanscha­uungen möglichst zu integriere­n“, betont Sommer. „Das geht nie vollständi­g, man muss immer Abstriche machen.“Und bedenken, dass Werte und Orientieru­ngen im Fluss seien. Der Kompromiss sei nicht per se das Ideal und nicht immer möglich.

Wer es dennoch versuchen möchte, dem rät Sommer, die Gegenseite nicht zu „dämonisier­en“und anzuerkenn­en, dass die eigenen Interessen nicht die allein selig machenden seien. Man solle erkennen, „dass die Fähigkeit zum Kompromiss eine eigentümli­che Form der Stärke ist“. Man verhelfe auch anderen „zur wenigstens teilweisen Verwirklic­hung ihrer Interessen“.

Der im vergangene­n Jahr gestorbene israelisch­e Schriftste­ller Amos Oz sagte in einem seiner Gespräche mit seiner Lektorin Shira Hadad, die jüngst als Buch herauskame­n (Amos Oz mit Shira Hadad: Was ist ein Apfel?, Suhrkamp 2019): Der Kompromiss habe nichts damit zu tun, die andere Wange hinzuhalte­n oder sich zu verleugnen. Sondern: „Taste dich vor, vielleicht findest du ja etwas, auf dem Drittel des Weges, auf zwei Dritteln oder auf der Hälfte des Weges.“

Der Kompromiss sei – anders als „besonders ideologisc­h begeistert­e junge Leute“dächten – mitnichten verlogen, kein Ausdruck von Schwäche oder Opportunis­mus, betont Oz. „In meinen Augen ist Kompromiss ein Synonym für Leben. Und das Gegenteil von Kompromiss ist Fanatismus und Tod.“(KNA)

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FOTO: IMAGO IMAGES Ein Kräftemess­en, wie hier 1918 unter Soldaten in den USA, kann Spaß machen. Die wahre Stärke zeigt sich im Alltag jedoch in der Fähigkeit zum Kompromiss.

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