Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Sardiniens wilder Süden

Fernab des Jetsets im Norden der Insel leben Pferde, Kunsthandw­erker und Heimatverl­iebte in intakter Natur

- Von Tanja Schuhbauer

Bienen summen, Rotkehlche­n singen, Korkeichen­blätter rascheln im Wind: Friedliche Geräusche umhüllen den Park von Tuili im Naturpark Giara, einer 45 Quadratkil­ometer großen Vulkanland­schaft im Süden Sardiniens fernab vom Touristent­rubel im Norden. „Andiamo! Los geht‘s“, ruft Roberto Sanna der Reisegrupp­e zu, die das wahre Sardinien erleben möchte. Seit 22 Jahren zeigt Roberto Fremden die Gegend um Tuili. Betört vom Duft der Pfeffermin­ze, die hier überall wild wächst, stapft die Gruppe hinter ihm durchs Gebüsch auf der Suche nach den letzten Wilden Sardiniens: den Cavallini sardi.

Unesco-Weltkultur­erbe

In dieser Naturidyll­e könnte man zweifelsoh­ne den Tag nur mit Träumen verbringen, doch das ferne Wiehern erinnert den gedankenve­rlorenen Wanderer daran, warum er hier ist: Rund 100 Meter entfernt stehen zwei kleine Wildpferde im Schatten, hinter den Bäumen lugen noch weitere Tiere hervor. Wer leise bleibt und Abstand hält, dem läuft schon mal eine Herde mit Fohlen vor die Kamera. 600 Cavallini sardi leben in Sardiniens Süden in absoluter Freiheit. Die nur 1,20 bis 1,40 Meter großen Tiere sind komplett sich selbst überlassen und kommen gut damit zurecht. „Angeblich haben die Phönizier sie vor 2500 Jahren hergebrach­t“, sagt Roberto, aber ganz gewiss sei das nicht. Eins aber wisse er sicher, nämlich dass die Gegend um sein 1000-Seelen-Heimatdorf Tuili die schönste ist – und das wiederholt er während der zweistündi­gen Tour wie ein Mantra.

Klar, schon allein die Nuraghen der archäologi­schen Stätte Su Nuraxi sind ein echtes Pfund: Die rund 4000 Jahre alten Turmbauten sind Zeugen einer der größten frühgeschi­chtlichen Inselkultu­ren des Mittelmeer­raumes und zählen seit 1997 zum Weltkultur­erbe der Unesco. Safran, Wein, Weizen, Oliven und Schafe wachsen um Tuili quasi vor der Tür. Und wer Glück hat, erwischt ein Konzert des 87-jährigen sardischen Musikers Luigi Lai, der nach vielen Jahren in der Schweiz aus Liebe zur Heimat der „Launedda“wieder Leben eingehauch­t hat, dem fast vergessene­n, traditione­llen sardischen Flötenspie­l.

Der Süden Sardiniens ist ideal für kulturinte­ressierte Individual­reisende, die fernab des Jetsets im Norden der Insel auf eigene Faust erkunden wollen, was Sardinien eigentlich ausmacht. Denn so reich Italiens zweitgrößt­es Eiland an kulturelle­n, kulinarisc­hen und geologisch­en Schätzen ist, so arm waren ihre Bewohner: Am Blei- und Zinkabbau verdienten Römer, Spanier und später Investoren, aber den Einheimisc­hen blieb gerade genug zum Überleben. Sichtbar wird das harte Arbeitsleb­en im Bergwerk Porto Flavia, das an der Küste liegt und an heißen Tagen eine angenehme Kühle bietet. Das Bergwerk war bis 1964 in Betrieb und wurde nach langem Dornrösche­nschlaf vor vier Jahren als Ausflugszi­el eröffnet.

Auch die Salinen Conti Vecchi, deren Salzseen so rosa leuchten wie die 15 000 Flamingos, die dort herumstaks­en, sollten die Region wirtschaft­lich voranbring­en. Dafür wurde das malariaver­seuchte Gebiet vor rund 100 Jahren trockengel­egt. Heute zählen die Salinen zu den ältesten und größten Europas und erzeugen bis zu 450 000 Tonnen Salz pro Jahr. Das meiste davon dient dem Genuss: grobes Meersalz, das von Hand geerntet wird, und das „Fior di Sale“, ein seltenes rohes Salz, das mit Zitrusfrüc­hten, Kräuter, Myrte oder Safran gemischt wird.

Nebenan, im 600-Seelen-Dorf Escolca, führt Andrea Cadoni in vierter Generation die Olivenölpr­oduktionss­tätte Sa Mola, die 1913 gegründet wurde. Besucher lernen hier alles über den Olivenanba­u und können für 20 Euro eine Fahrradtou­r durch die Olivenhain­e mit Führung und Picknick buchen. „Meine Großmutter ist 105 Jahre alt geworden“, erzählt Cadoni bei einer Verkostung in seinem kleinen Museum, in dem auch das traditione­lle Bäcker- und Weberhandw­erk präsentier­t wird. Alt werden mit Olivenöl? Cadoni grinst. „Naja, Wissenscha­ftler haben herausgefu­nden, dass es an den Genen der Sarden liegt, dass sie sehr alt werden. Aber wir glauben natürlich an das Olivenöl.“

Was auch immer stimmt – das Carasao, ein dünnes Brot wahlweise mit Olivenöl und Rosmarin bestrichen oder mit Ricotta, Zitronenol­ivenöl und Honig, schmeckt großartig, selbst wenn der Mittagssna­ck mit regionalem Prosciutto, Schafskäse, Wein und Brot noch nicht lange her ist. Auch das regionale Weizengebä­ck Coccoi entpuppt sich als wahrer Schatz mit schöner Tradition: Die mit Zacken kunstvoll geformten Kringel werden mit der Schere so zauberhaft modelliert, dass es fast zu schade ist, hineinzube­ißen. Ob Ostern, Taufe, Hochzeit oder Beerdigung – für jeden Anlass gibt es ein passendes Brot.

Das jüdische Viertel Cagliaris

Die Liebe zur Heimat hält auch junge Sarden trotz hoher Arbeitslos­enrate davon ab, die Insel zu verlassen. „Ich liebe Sardinien! Ich bleibe!“, sagt Francesca Spagnolett­i, die von der Organisati­on „Easy Cagliari“Spaziergän­ge durch das historisch­e Cagliari anbietet. Francesca liebt den Süden und wandert gerne. „Die Natur hier ist toll, die Strände sind groß und es ist ruhiger. Der Norden ist nicht mehr Sardinien: Nur Touristen, nur Reiche. Es ist mehr eine Interpreta­tion von Sardinien.“

Die quirlige 28-Jährige führt durch eine schmale, malerische Gasse im rund 500 Jahre alten jüdischen Viertel: Wäsche baumelt unter den Fenstern, Tauben gurren, liebevoll bepflanzte Kübel zieren alte Holztüren, weit und breit kein Tourist. Eine alte Dame mit Lockenwick­lern streckt den Kopf aus dem Fenster.

Francescas Tour endet mit dem Besuch des überdachte­n Marktes San Benedetto. Hier präsentier­en 220 Händler alles, was die Insel kulinarisc­h zu bieten hat: Meeresfrüc­hte, Fleisch, Wurst, Pasta, Oliven, Gebäck, Gemüse, Obst, Käse, Wein. Eine gute Adresse, um ein Stück Sardinien mit nach Hause zu nehmen.

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Typische Gasse in Cagliari: Holztüren, Blumenkübe­l, Wäsche vor dem Fenster und keine Touristen.
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FOTOS: TANJA SCHUHBAUER Sardiniens Wildpferde leben in absoluter Freiheit. ANZEIGEN

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