Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Netanjahu hat sich verspekuliert
Benjamin Netanjahu dürfte seit Dienstagabend gehörig zittern. Der israelische Noch-Premier hatte gehofft, dass ihn eine Koalition mit rechten und ultraorthodoxen Parteien erneut zum Ministerpräsidenten wählt – und so vor Strafverfolgung bewahrt. Im Falle einer erfolgreichen Regierungsbildung wollte der LikudChef ein Immunitätsgesetz durchdrücken. Damit ist er gescheitert, die Neuwahl hat er nicht gewonnen. Nun erwartet ihn im Oktober eine Anhörung wegen schwerer Korruption.
Dass er dann noch Ministerpräsident ist, ist aber wenig wahrscheinlich. Auch wenn er vollmundig den Regierungsanspruch erhebt – seine Chance darauf ist marginal. Denn Netanjahu gehen die Optionen aus. Dass sich Herausforderer Benny Gantz und sein zentralistisches blauweißes Parteienbündnis auf eine große Koalition mit Likud und Netanjahu an der Spitze einlässt, gilt als unwahrscheinlich. Dass sich Ex-Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und seine nationalistische Partei Unser Haus Israel mit Ultraorthodoxen an einen Tisch setzt, ist ebenfalls nicht zu erwarten. Lieberman will den Einfluss der Religiösen zurückdrängen – und hat so Stimmen der Säkularen gewonnen.
Eigentlich könnten die Bewohner Israels zufrieden sein mit Netanjahu. In seinen zehn Amtsjahren ist das Land wirtschaftlich aufgeblüht. Doch die Bürger ließen sich davon nicht kaufen. Sie haben Netanjahus Versuche, die Demokratie zu korrumpieren, satt. Benny Gantz hingegen wirkt wie der anständige Gegenpart. Die Tatsache, dass sich das blau-weiße Bündnis erst im April gegründet hat und nun auf ebenso viele Knesset-Sitze kommt wie Likud, zeigt den Wunsch vieler Menschen nach einem Wandel. Inhaltlich unterscheiden sich Netanjahu und Gantz – vor allem in der Sicherheitspolitik – kaum. Die Wähler haben mehr für eine Person und weniger für eine Politik votiert.
Trotz einer schon immer zerklüfteten Parteienlandschaft war die Situation selten so verfahren. Die israelische Zeitung „Haaretz“spricht schon von möglichen Neuwahlen Anfang 2020. Die sollten Israel und seiner Demokratie erspart bleiben.
d.hadrys@schwaebische.de