Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Waffenruhe in Nordsyrien läuft aus
Farhad Ameen Atrushi, Gouverneur der Provinz Dohuk im Nordirak, zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien
DOHUK (sz) - In Nordsyrien läuft heute eine rund sechstägige Waffenruhe aus. Die Türkei und Russland hatten die Vereinbarung rund zwei Wochen nach Beginn einer türkischen Offensive in Nordostsyrien getroffen. Vor dem militärischen Vorgehen gegen die kurdische YPG-Miliz sind bereits Zehntausende Menschen in die Kurdengebiete im Nordirak geflohen. Dort erweist sich ihre Versorgung als schwierig.
DOHUK - Die Provinz Dohuk im Nordirak spürt die Folgen der türkische Offensive in Nordsyrien ganz direkt. Jeden Tag kommen dort Tausende neue kurdische Flüchtlinge an. „Wenn das so weitergeht, sind wir demnächst nicht mehr in der Lage, uns um diese Menschen zu kümmern“, sagt Farhad Ameen Atrushi, Gouverneur der Provinz Dohuk, im Gespräch mit Claudia Kling. Er fühlt sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen.
Herr Atrushi, nach der militärischen Offensive der Türkei im Norden Syriens sind viele syrische Kurden in die Provinz Dohuk im Nordirak geflohen. Wie gehen Sie mit der Situation um?
Es kommen jeden Tag mehr Flüchtlinge, allein im Camp Bardarash sind es mittlerweile 10 800. Die Lage ist sehr kompliziert, vor allem die Sicherheitslage. Aber auch die Unterbringung, die medizinische Versorgung und die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder sind ein Problem für uns. Die kurdische Regierung hat nicht die finanziellen Mittel, für die neuen Flüchtlinge zu sorgen. Das Einzige, was wir garantieren können, ist ihre Sicherheit. Das haben wir auch gegenüber den Vereinten Nationen und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR deutlich gemacht.
Wie viele Flüchtlinge leben bereits in der Provinz Dohuk?
In der Provinz Dohuk mit rund 1,5 Millionen Einwohnern haben wir 21 Camps mit fast 150 000 Vertriebenen, vor allem Jesiden. Das Camp Bardarash, das jetzt für die Kurden aus Syrien wieder geöffnet wurde, ist das 22. Die Menschen leben zum Teil unter sehr schlechten Umständen. Deshalb haben wir die UN und andere ausländische Organisationen um Hilfe gebeten. In der letzten Zeit haben sehr viele Nichtregierungsorganisationen die Region Dohuk in Richtung Zentralirak verlassen. Vonseiten der Zentralregierung werden wir aber mit unseren Problemen alleine gelassen. Wenn das so weitergeht, sind wir demnächst nicht mehr in der Lage, uns um diese Menschen zu kümmern.
Wie bewerten Sie als kurdischer Politiker im Nordirak den Rückzug der US-Truppen aus den nordsyrischen Gebieten?
Die Kurden in Nordsyrien hat dieser Rückzug sehr verbittert. Sie fühlen sich von den Amerikanern im Stich gelassen. Sie haben den Glauben an die Politik verloren, und sie sind komplett demoralisiert. Das wird sich auch nicht von heute auf morgen wieder ändern, da sich ihre Lage weiter verschlechtern wird.
Wie reagiert die Bevölkerung in der Provinz Dohuk auf den erneuten Flüchtlingszustrom?
Ich bin zuversichtlich, dass die Bevölkerung in Dohuk Verständnis für die Lage der neuen Flüchtlinge aufbringt. Wie hilfsbereit die Menschen hier sind, hat sich ja in den vergangenen Jahren gezeigt. Aber ehrlich gesagt befürchte ich auch, dass die Stimmung in der Bevölkerung doch kippen könnte, wenn auch diese Flüchtlinge dauerhaft bleiben sollten. Die Arbeitslosigkeit hier ist ja ohnehin schon sehr hoch, dieses Problem würde sich weiter verschärfen.
Fühlen Sie sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen?
Ja. Wir haben vor acht Jahren syrische Flüchtlinge aufgenommen, von denen die meisten bei uns im Land geblieben sind. Wir haben vor fünf Jahren Hunderttausende Jesiden in der Provinz Dohuk aufgenommen. Jetzt sieht es so aus, als kämen dauerhaft Zehntausende Kurden aus Syrien zu uns – davon gehen auch die Vereinten Nationen aus. Klipp und klar gesagt: Die Türken haben mit ihrer Offensive dafür gesorgt, dass wir hier nicht mehr weiterwissen. Wir fühlen uns wie in türkischer Geiselhaft. Und die Weltgemeinschaft interessiert sich offensichtlich nicht für das Schicksal der Kurden. Sie hat keine Verantwortung gezeigt.
Die Provinz Dohuk grenzt direkt an Syrien. Wer wird künftig auf der anderen Seite der Grenze das Sagen haben?
Der syrische Präsident Baschar alAssad wird wohl wieder das Sagen haben – und der Westen schaut dabei zu. Dann muss künftig aber auch niemand mehr über Menschenrechte in Syrien und den Schutz von Minderheiten sprechen. Falls Assad auf der anderen Seite der Grenze dauerhaft die Kontrolle übernehmen sollte, werden sich Zigtausende Menschen auf den Weg zu uns machen: Christen, Kurden, aber auch viele Araber.
Was bedeutet die neue politische Lage in Syrien für die jesidischen Flüchtlinge in Dohuk?
Es war den Jesiden ja bislang kaum möglich, in ihre Heimat zurückzukehren, weil die Sicherheitslage dort katastrophal ist. Wenn nun auch noch Assads Truppen und türkische Söldner im syrisch-irakischen Grenzgebiet unterwegs sind, werden die Jesiden nie mehr nach Shingal zurückgehen. Als Kurden müssen wir anerkennen, dass wir dieses Gebiet, das ja zu den umstrittenen Gebieten im Irak gehört, verloren haben. Auch der „Islamische Staat“könnte dort wieder stärker werden, weil Hunderte Dschihadisten in Syrien entkommen konnten.
Am Wochenende gingen in der irakischen Hauptstadt Bagdad und in einigen Provinzen im Süden des Iraks Tausende Menschen gegen die Zentralregierung auf die Straße. Sehen Sie die Gefahr einer neuen Destabilisierung im Irak?
Auf jeden Fall. Wir befürchten, dass die Demonstrationen die Regierung in Bagdad schwächen könnten. Die Lage im Land wäre dann noch unberechenbarer, als sie ohnehin schon ist. Aber auch für uns könnten die Proteste Folgen haben: Wenn die Situation eskaliert, rechnen wir hier in Kurdistan mit vielen Binnenflüchtlingen aus der Hauptstadt und den südlichen Landesteilen, weil es bei uns vergleichsweise ruhig und sicher ist. Was das für uns bedeuten würde, können Sie sich jetzt vorstellen.