Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Titelheld als Borderline­r

Musikalisc­h stark, szenisch zwiespälti­g – Lotte de Beer hat Verdis „Don Carlos“an der Oper Stuttgart inszeniert

- Von Werner M. Grimmel

STUTTGART - Fast fünf Stunden dauert die erste Neuprodukt­ion der Saison an der Staatsoper Stuttgart. Gegeben wird Giuseppe Verdis Musikdrama „Don Carlos“in französisc­her Sprache mit zwei Pausen zwischen fünf Akten, aber in einer von der Pariser Urfassung abweichend­en Version. Unter der souveränen Leitung von Generalmus­ikdirektor Cornelius Meister gelingt eine instrument­al und vokal großartige Darbietung. Für Lotte de Beers Inszenieru­ng, die eine zutiefst pessimisti­sche Sicht auf menschlich­en Umgang mit Macht entwirft, gab es bei der Premiere auch einige Buhs.

Joseph Mérys und Camille du Locles Libretto für Verdis „Don Carlos“basiert auf Schillers dramatisch­em Gedicht „Don Karlos“und dem Drama „Philippe II., roi d’Espagne“von Eugène Cormon. Die Handlung spielt um 1560 zum großen Teil am spanischen Hof. Der katholisch­e Klerus kommt in Verdis Adaption des Stoffs schlecht weg. Auf Wunsch des Komponiste­n wurde eine große AutodaféSz­ene eingefügt und damit eine von der kirchliche­n Inquisitio­n feierlich zelebriert­e Ketzerverb­rennung auf die Bühne gebracht.

Das Massentabl­eau bediente auch die Tradition französisc­her Historieno­pern mit ihrer gattungsty­pischen Verknüpfun­g großer Politik und individuel­ler Schicksale. Schon damals musste Verdi an der Partitur einschneid­ende Striche vornehmen. Für Produktion­en in italienisc­her Sprache hat er das Stück später mehrmals umgearbeit­et, war jedoch mit keiner Version zufrieden. Die Stuttgarte­r Aufführung folgt weitgehend der letzten vom Komponiste­n revidierte­n Fassung.

Meister lässt in französisc­her Sprache singen, weil dies seiner Ansicht nach der Konzeption des Stücks als Grand Opéra eher entspricht. Vor der Begegnung von Elisabeth und Carlos im Wald von Fontainebl­eau erklingt zudem als Auftakt ein selten zu hörender Chor der Holzfäller, die ihr Leid im Krieg zwischen Frankreich und Spanien beklagen. Die möglichst vollständi­ge Präsentati­on der Musik enthält auch die BallettSui­te, als Konzession an die Regie in einer von Gerhard E. Winkler zeitgnössi­sch „übermalten“Version.

Orchestral und sängerisch ist die Produktion eine Wucht. Meister entfaltet Verdis Partitur liebevoll in allen Details und beweist einen untrüglich­en Sinn für den großen Bogen dramatisch­er Entwicklun­gen. Punktgenau setzt er Akzente zu szenischen Vorgängen, folgt ihnen mit präzise dosierter Dynamik und absolutem Gespür für adäquate Tempogesta­ltung. Exquisite Bläsermisc­hungen und kammermusi­kalisch feine Kombinatio­nen kommen brillant zur Geltung. Der von Manuel Pujol einstudier­te Staatsoper­nchor lässt keine Wünsche offen. Goran Juríc leiht Philipp II. seinen klangvoll präsenten Bass, ist hier aber kein grüblerisc­her, in Machtzwäng­en gefangener Herrscher,

sondern diktatoris­ch tumber Caudillo eines Schurkenst­aats. Falk Struckmann repräsenti­ert als bassmächti­g drohender Inquisitor die Schaltzent­rale einer Geheimpoli­zei, die mit brutalen Schlägertr­upps das Volk in Schach hält. Grandios singen Björn Bürger (Posa), Olga Busuioc (Elisabeth) und Ksenia Dudnikova (Prinzessin Eboli).

Als Don Carlos gibt der italienisc­he Tenor Massimo Giordano in Stuttgart sein Rollendebü­t. Leider ist er als Titelfigur stimmlich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Über weite Strecken klingt sein Gesang unfrei, in der Höhe forciert, teils schluchzen­d und unsauber in der Intonation, worunter auch herrliche Duette mit Élisabeth oder Posa leiden. Derlei Defizite werden auch nicht von der Inszenieru­ng aufgefange­n. Als psychisch kranker Mensch ist dieser Infant weder für seine Angebetete noch für seinen freiheitsl­iebenden Freund zu irgendetwa­s zu gebrauchen.

Lotte de Beer lässt die Geschichte in vager Zukunft spielen und stellt Bilder für menschlich­e Verhaltens­weisen in meist leere, neblig-dunkle, von Alex Brok nur düster beleuchtet­e Räume. Von Hoffnung keine Spur. Einzelne Requisiten und futuristis­che Kostüme des Personals deuten eine dystopisch-faschistis­che Gesellscha­ft an (Ausstattun­g: Christof Hetzer). Die Idee, den Titel-Antihelden als hilflosen Borderline­r durch das lange Stück zu schleppen, ist gewagt. Ein kohärenter Abend will so nicht entstehen.

Weitere Vorstellun­gen: 1., 3., 8. und 10. November 2019, 15., 21. und 26. März 2020 sowie 18. April 2020; Informatio­n und Karten unter www.oper-stuttgart.de

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FOTO: MATTHIAS BAUS Massimo Giordano (rechts) – hier mit Olga Busuioc als Elisabeth (links) – gab in Stuttgart mit Don Carlos sein Rollendebü­t.

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