Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sehen und gesehen werden
130 Radfahrer blockieren Autoverkehr, um auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen
WEINGARTEN - Michael Dörfel und Carolin Bispinghoff erledigen in ihrem Alltag das meiste mit dem Fahrrad. Da ist es kein Wunder, dass ihre älteren Kinder Jakob (7 Jahre alt) und Linnea (5) Weingartens Berge runterradeln wie die Profis. Die kleine Martha (1) darf noch im Anhänger bei Papa mitfahren. Auch für Markus Klauser ist die Sicherheit im Straßenverkehr eine Herzensangelegenheit. Und genau deswegen nehmen sie allesamt teil an der achten Critical Mass im mittleren Schussental, an diesem Freitag mit Start in Weingarten.
„Ich gehöre zu den wenigen angstfreien Fahrradfahrern, aber ich habe jetzt halt auch Kinder“, sagt Klauser. Aber nicht nur die Sicherheit ihrer Kinder ist Klauser, Dörfel und Bispinghoff wichtig. Poster mit den Sätzen „Knackarsch statt Bleifuss“und „Luft statt Abgase“kleben auf Marthas Fahrradanhänger. Die Verkehrswende ist auch Klimaangelegenheit.
Umso erfreulicher ist für die Veranstalter, dass nach eigener Angabe an diesem Tag etwa 130 Radfahrer aller Altersgruppen durch die Straßen von Weingarten und Ravensburg fahren, um für fahrradfreundlichere Straßen zu demonstrieren. Dazu gehörte in diesem Fall dann auch ein kleiner Polizeieinsatz, selbst wenn es ansonsten sehr friedlich zuging.
Die Aktionsform „Critical Mass“stammt ursprünglich aus San Francisco. Nach Paragraf 27 der Straßenverkehrsordnung (StVO) gilt in Deutschland die Regel, dass mehr als 15 Radfahrer einen „geschlossenen Verband“bilden. Das macht ihn rechtlich zu einem langen Fahrzeug wie etwa ein Sattelzug. Auf der Straße bedeutet das, dass der Zug komplett über die Ampel fahren darf, auch wenn diese zwischenzeitlich auf Rot umspringt.
Die Fahrradfahrer aus Weingarten und Ravensburg treibt es seit Frühjahr diesen Jahres auf die Straßen. Als Vorbild gelten die Demonstrationen in Großstädten wie Stuttgart, München oder Berlin. Aber egal ob Groß- oder Kleinstadt. Eines haben sie gemeinsam. Sie wollen etwas tun und sich nicht weiter im Stillen ärgern.
Zwei, die jeden Tag mit Fahrrädern zu tun haben, sind Siggi Graf und Robert Störkle vom Weingartener Fahrradladen BICI. Sie erzählen, dass die Critical Mass in Weingarten und Ravensburg normalerweise sehr friedlich vonstattengehen. Auch die Mehrheit der autofahrenden Bevölkerung nimmt die Aktion gut an. „Es muss etwas getan werden für die Fahrradfahrer“, sagt Störkle. Seine Wünsche sind unter anderem bessere Fahrradwege und eine bessere Trennung dieser vom Autoverkehr. Autofahrer würden beim Überholen viel zu wenig Sicherheitsabstand
halten. „Jung und alt müssen sich sicher fühlen“, findet Graf. „Es muss eine bessere Infrastruktur für Radfahrer geben.“Außerdem wünscht er sich eine sinnvolle Grünschaltung mit Vorrang für Radfahrer. Er ärgert sich über die Politik. Da werde „viel geschwätzt und nicht gehandelt“. Aber wenn man einen anderen Mix für den Pendlerverkehr haben will, muss man halt etwas tun.
Um auf ihre Bedürfnisse hinzuweisen, gehen die Radfahrer an die Öffentlichkeit. Eine Critical Mass funktioniert frei nach dem Motto „Sehen und gesehen werden“. Durch das öffentliche Auftreten wollen die Teilnehmer die Aufmerksamkeit auf ihre Themen richten.
Am Stadtgarten Weingarten kommt nun Bewegung in die Sache. Dörfel nennt die Route über ein Megafon. Auch über den Gespinstmarkt in Ravensburg soll es gehen. Dieser soll autofrei werden und bietet damit aktuell jede Menge Dikussionsstoff.
„Dann kann’s losgehen mit einem Klingelkonzert“, sagt er und bildet mit seiner Familie die Spitze des Zuges. Während der Fahrt gibt es jede Menge Reaktionen. Eine Autofahrerin stützt den Ellbogen gelangweilt auf das Lenkrad, während sie wartet, bis die Kolonne vorübergefahren ist. Ein anderer hupt und streckt die Faust mit Daumen nach oben aus dem geöffneten Dachfenster. Zwei Personen auf einem Moped zeigen das Okay-Handzeichen und ein Mädchen ruft aus dem geöffneten Fenster eines Hauses „Ich will mitfahren!“.
Am Gespinstmarkt angekommen, stimmt sich ein Sprechchor ein. „Gespinstmarkt autofrei!“, rufen etwa 130 Menschen und ziehen damit jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Die Passanten zücken ihre Handys und machen Bilder und Videos.
Auf dem Rückweg nach Weingarten gibt es dann doch noch einen ärgerlichen Zwischenfall. Als die Radfahrer schon fast wieder am Stadtgarten angekommen sind, meldet sich plötzlich ein Autofahrer mit einem sehr kurzen Geduldsfaden. Mit lautem Motorheulen versucht er die Radfahrer auf die rechte Seite zu drängen und an einer unübersichtlichen, schmalen Straße mit vielen parkenden Autos zu überholen. Der Autofahrer gefährdet eine Radfahrerin massiv. Klauser nutzt den Moment aus, als der Fahrer kurz abbremst und reißt die Beifahrertür des Fahrzeuges auf. Er bringt den Autofahrer damit zum Stehen. Die Polizei spricht gegen den uneinsichtigen Autofahrer eine mündliche Verwarnung aus. Die Radfahrerin, die am stärksten gefährdet war, meint im Nachhinein, dass sie den Fahrer eigentlich hätte anzeigen sollen.
Als sich nach dem kurzen Zwischenfall auch die Letzten wieder am Stadtgarten einfinden, darf auch Dörfels Sohn Jakob an das Megafon. „Fahrrad hochheben!“, ruft er mehrfach. Nachdem sich die Leute zuerst etwas unschlüssig anschauen, heben tatsächlich die meisten ihr Rad hoch. Es wirkt wie eine Siegergeste.