Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Revolutionsführer unter Bruddlern
Coach Tim Walter wähnt VfB trotz Ergebniskrise auf „sehr gutem Weg“
STUTTGART - Knapp 76 Stunden mussten reichen. So viel Zeit blieb VfB Stuttgarts Trainer Tim Walter zwischen Abpfiff und Anpfiff beim Hamburger SV. Genau 4542 Minuten, in denen auch einmal nach Stuttgart zurückgeflogen, geschlafen, trainiert und wieder nach Hamburg geflogen werden musste, um das heftige 2:6 aus den Köpfen zu bekommen. Zeit für Selbstzweifel blieben da nicht – zumindest nicht bei Walter. Auch nach drei Niederlagen in Serie wähnt Walter vor dem Pokalspiel beim HSV (18.30/Sky) seine Mannschaft „auf einem sehr guten Weg, weil die Art und Weise, wie wir Fußball spielen, ist hervorragend“.
Ein typischer Walter. Über den sehr selbstbewussten Trainer, dessen taktische Ideen ebenso radikal wie riskant sind, schrieb das Fußballmagazin „11 Freunde“in seiner aktuellsten Ausgabe treffend: „Walter ist Idealist und kein Pragmatiker. Er wird auch nach Niederlagen an seiner Idee festhalten, denn er ist schließlich nicht nur Fußballlehrer, sondern auch Revolutionsführer.“
„Merkt ja, dass meine Mannschaft so spielt, wie ich es gerne hätte“
Und so gab sich Walter auch am Montag. „Ich habe genug Krisen erlebt in meiner Karriere. Ich bin ja nicht erst seit einem Jahr Trainer oder seit zwei, ich bin seit zwölf Jahren Trainer“, betonte er und stellte klar: „Ihr merkt ja, dass meine Mannschaft so spielt, wie ich es gerne hätte. Und wenn ihr merkt, dass ich wenig beeindruckt bin“, erklärte er den Journalisten, „wisst ihr auch, wie meine Mannschaft damit umgeht. Uns geht’s gut. Wir wissen, was wir falsch und was wir gut gemacht haben.“
Von seinem Offensivstil, bei dem die Innenverteidiger nach vorne verteidigen und dadurch permanente Überzahlsituationen in der gegnerischen Hälfte schaffen sollen, will er ohnehin nicht abkommen. Man müsse jetzt eben „die Lehren“ziehen und die jungen Spieler „erziehen“, mit dem Druck umzugehen: „Sie müssen durch die harte Schule des Lebens gehen. Das müssen sie lernen.“
Sportdirektor Sven Mislintat betonte am Samstag nach dem 2:6 zwar, dass man „jede Partie einzeln betrachten“müsse und die Niederlagen unterschiedliche Gründe hatten (kein Glück gegen Wehen, ausgecoacht gegen Kiel, abgekochter Gegner beim HSV). Und doch: Vier Niederlagen am Stück könnten den Ruf nach Veränderung und die Sehnsucht nach mehr Stabilität im Mannschaftsverbund bei den ohnehin schon bruddelnden Fans – und womöglich auch bei den sportlich Verantwortlichen – deutlich vehementer werden lassen. Kapitän Marc-Oliver Kempf spricht offen über erste „Verunsicherungen“, vor allem bei jungen und frisch verpflichteten ausländischen Spielern. Auch wegen einer Stuttgarter Eigenheit. Die Treue und die Leidensfähigkeit der VfBFans sind zwar legendär, mindestens genauso ausgeprägt ist aber auch der Hang zum Bruddeln. Wenn die eigenen Fans das Team auspfeifen, sei das nicht für alle leicht wegzustecken, so Kempf.
Dessen Vorgänger in der Kapitänsrolle hat das jahrelang miterlebt und gut weggesteckt. Dennoch sagte Christian Gentner, mittlerweile bei Union Berlin, jüngst ebenfalls der „11 Freunde“: „Durch meine langjährige Erfahrung im Verein und generell im Profifußball hatte ich eine gewisse Routine entwickelt, die mir in solchen Situationen geholfen hat, nicht den Kopf zu verlieren.“
Für andere Spieler jedoch war das ein „erhebliches Problem“: „Die angespannte Stimmung wurde für sie zur Belastung auf und neben dem Platz. Wir hatten vor allem keine guten Heimspiele in der vergangenen Saison [...]. Auch wenn die Kritik wegen der schlechten Ergebnisse berechtigt war, war der Umgang damit für uns nicht einfach.“Seine Teamkollegen hätten den Druck und die Ängste zu überspielen versucht. „Viele wollten das nicht zeigen.“Vor allem bei jüngeren Spielern, die frisch in den Profibereich gestoßen waren, war dies der Fall.
Von denen hat der VfB derzeit auch einige. Silas Wamangituka, Tanguy Coulibaly oder auch der derzeitig wohl glückloseste Profi, der 19-jährige Maxime Awoudja: Sie sollen die Stuttgarter zurück in die erste Liga schießen, Mit frischem Offensivdrang und im vollen Glauben an Trainer Walter war das Team lange genau auf dem richtigen Weg, doch nun sind erste Schlaglöcher zu erkennen. Der Rückstand auf den Tabellenersten HSV beträgt vier Punkte.
Noch nicht dramatisch. Doch im Anhang brodelt es schon. Die Fans haben in den vergangenen Jahren mit zwei Abstiegen und etlichen Wechseln auf der Trainerbank und im Management des VfB einiges mitgemacht. „Was wir nicht tun dürfen, ist, uns von dieser Unruhe anstecken zu lassen“, sagte Mislintat.
Was Mut machen könnte, beschreibt Ex-Kapitän Gentner so: „Das Rad der Zeit dreht sich schnell weiter.“
Aus Sicht des VfB hoffentlich schon in Hamburg.