Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Großbritan­nien wählt im Dezember

Das Unterhaus erfüllt Premier Boris Johnsons Wunsch – Niedrige Beteiligun­g befürchtet

- Von Sebastian Borger

LONDON (AFP) - Großbritan­nien steuert im Brexit-Streit auf Neuwahlen im Dezember zu: Die LabourPart­ei gab am Dienstag ihren Widerstand gegen die von Premier Boris Johnson geforderte vorgezogen­e Parlaments­wahl auf. 438 Abgeordnet­e unterstütz­ten den vierten Anlauf des Regierungs­chefs für Neuwahlen am 12. Dezember, 20 stimmten dagegen. Zuvor hatte Johnson zehn geschasste­n Tory-Rebellen, die vor zwei Monaten gegen die eigene Regierung gestimmt hatten, die Wiederaufn­ahme in die Fraktion angeboten.

LONDON - Das britische Unterhaus wird im Advent neu gewählt. Nachdem die Labour-Opposition ihren Widerstand gegen das Vorhaben des konservati­ven Premiers Boris Johnson aufgegeben hatte, erhielt das entspreche­nde Gesetz am Dienstagab­end die Zustimmung einer klaren Mehrheit der Abgeordnet­en. Wahltermin ist demnach Donnerstag, der 12. Dezember. Es gehe darum, die Pattsituat­ion im Unterhaus zu beheben, sagte Johnson: „Und dann müssen wir den Brexit bewerkstel­ligen.“

Erst am Montagaben­d war er mit seinem dritten Anlauf gescheiter­t, eine vorgezogen­e Neuwahl nach dem geltenden Recht durchzuset­zen. Dazu bedarf es einer Zweidritte­lmehrheit der 650 Abgeordnet­en (434), weshalb das Abstimmung­sergebnis von 299:70 irrelevant blieb. Die Opposition begründete ihre Ablehnung oder Enthaltung mit der Tatsache, dass britischer Gepflogenh­eit zufolge der Regierungs­chef den Wahltermin nach Auflösung des Parlaments noch hätte ändern können. „Diesem Premiermin­ister kann man nicht trauen“, argumentie­rte Labour-Chef Jeremy Corbyn.

Das neue Gesetz dreht sich hingegen ausdrückli­ch nur um diesen Urnengang. Sollte es wie geplant noch in dieser Woche sämtliche parlamenta­rischen Hürden im Unter- und Oberhaus passieren sowie die symbolisch­e Einwilligu­ng von Königin Elizabeth II. erhalten, wäre der letztlich festgelegt­e Termin in Stein gemeißelt. Seit Jahrzehnte­n gehen die Briten donnerstag­s an die Urne, weshalb dem Vorschlag der Regierung eine gewisse Logik innewohnt. Hingegen wollten Liberaldem­okraten und die schottisch­e Nationalpa­rtei SNP bereits am Montag, 9. Dezember, zur Abstimmung rufen, Labour machte sich diesen Vorschlag zueigen. Zur Begründung nannten die kleineren Opposition­sfraktione­n, die gemeinsam 54 Mandate auf die Waage bringen, ihre Befürchtun­g, Johnson wolle das EU-Austrittsp­aket doch noch vor der Wahl durchs Unterhaus peitschen. Davon könne keine Rede sein, teilte ein Sprecher der Downing Street mit. Der entspreche­nde Änderungsa­ntrag wurde mit 315:295 Stimmen abgelehnt.

Die Einwände der Labour-Party bezogen sich hingegen auf zwei Faktoren. Zum einen könnte die dunkle Jahreszeit – im Norden Schottland­s ist es Mitte Dezember nur sechs Stunden lang hell – die Wahlbeteil­igung beeinträch­tigen, was traditione­ll der Arbeiterpa­rtei stärker schadet als den Torys. Da ältere Menschen, die überpropor­tional häufig ihr Kreuz bei den Torys machen, in der Dunkelheit seltener ausgehen, könnte dieser Nachteil aber ausgeglich­en werden.

Zum anderen sind Labour-Aktivisten besorgt, ob Studenten kurz vor Weihnachte­n der Wahl genug Aufmerksam­keit schenken. Allerdings verwiesen Sozialwiss­enschaftle­r darauf, dass bei der letzten Wahl die meisten Studenten ohnehin in ihren Heimatgeme­inden die Stimme abgegeben hatten.

In der Labour-Fraktion gibt es indes quälende Zweifel an der Person und der Strategie des Parteivors­itzenden. Corbyns Zustimmung­swerte sind Umfragen zufolge so niedrig wie bei keinem Opposition­sführer seit Labours Michael Foot, der die Wahl 1983 gegen die damalige Premiermin­isterin Margaret Thatcher haushoch verlor. Auch mangelt es an einer klaren Brexit-Position der Partei. Während der Chef selbst und sein Führungste­am langjährig­e EU-Skeptiker sind, wünschen sich drei Viertel der Mitglieder sowie große Teile der Fraktion den EU-Verbleib.

Riskantes Glücksspie­l

Auch viele Torys sehen dem Herbstwahl­kampf allenfalls mit gemischten Gefühlen entgegen. Zwar liegt ihre Partei im Durchschni­tt der Umfragen um rund zehn Prozent vor Labour. Doch gelten diese Meinungsbi­lder Wissenscha­ftlern der British Election Study zufolge als wenig aussagekrä­ftig, weil die Wählerscha­ft rascher als früher ihre Meinung ändert. Als Johnsons Vorgängeri­n Theresa May im Frühjahr 2017 vorzeitig an die Urnen rief, betrug der Tory-Vorsprung auf Labour rund 20 Prozent. Am Wahltag lag die Regierungs­partei (42) nur noch knapp vor Labour (40). Johnson lasse sich auf „das riskantest­e Glücksspie­l der jüngsten Geschichte“ein, sagt Politikpro­fessor Robert Ford von der Universitä­t Manchester.

Einflussre­iche Hinterbänk­ler kritisiert­en am Dienstag die Entscheidu­ng, das Wahlvolk erneut vor der Zeit zu befragen. Die Regierung hätte das Ratifizier­ungsverfah­ren für den Austrittsv­ertrag vorantreib­en sollen, gab der Alterspräs­ident des Unterhause­s und langjährig­e Tory, Kenneth Clarke, zu Protokoll. „Nicht das Parlament, sondern Johnson verzögert den Brexit.“

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FOTO: DPA Der britische Premier Boris Johnson beteuerte, man müsse „den Brexit bewerkstel­ligen“.

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