Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Streit um Teilhabege­setz für Menschen mit Behinderun­g

Die Betroffene­n klagen über viel Verunsiche­rung, Landkreise und Städte über zu wenig Geld

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STUTTGART/KARLSRUHE (lsw) Die Reform ist ein Meilenstei­n: Mit dem neuen Bundesteil­habegesetz (BTHG) bekommen Menschen mit Behinderun­g mehr Selbstbest­immung und auf individuel­le Bedürfniss­e zugeschnit­tene Unterstütz­ung. Vor Inkrafttre­ten der dritten Stufe des Bundesgese­tzes herrschen allerdings Chaos und heftiger Streit um die Finanzieru­ng. Die Landkreise und Städte, die als Träger die Änderungen zum 1. Januar kommenden Jahres stemmen müssen, fühlen sich vom Land finanziell im Stich gelassen. Das Land wiederum ist empört über die Vorwürfe.

Das BTHG wird bis 2023 in vier Reformstuf­en umgesetzt und kommt einem Paradigmen­wechsel in der Behinderte­nhilfe gleich. Statt wie früher Pauschalbe­träge für „Fürsorge“zu erhalten, soll jeder einzelne Mensch mit Behinderun­g in seinen individuel­len Bedürfniss­en gefördert werden, unabhängig von der Wohnform. Leistungen für Existenzsi­cherung werden getrennt von Leistungen zur Teilhabe. Zur Existenzsi­cherung gehören etwa Wohnen und Essen, zur Teilhabe etwa Mobilität, Assistenzb­edarf oder Bildung.

Nach Angaben von Städte- und Landkreist­ag müssen bis zum Jahr 2022 Mehrausgab­en von rund 150

Millionen Euro geschulter­t werden. Das Land habe für 2020 und 2021 aber nur 26 Millionen Euro zugesagt und eine Rücklage gebildet von 80 Millionen Euro – ohne zu klären, wie diese eingesetzt werden soll.

Landkreist­ags-Hauptgesch­äftsführer Alexis von Komorowski nannte dies einen ungedeckte­n Scheck und inakzeptab­el. „Das ist Papiergeld, das möglicherw­eise für völlig andere Dinge ausgegeben wird.“Unter solchen Bedingunge­n könne in der Folge auch der Rahmenvert­rag mit den Wohlfahrts­verbänden nicht weiter verhandelt werden. Die Gespräche liegen auf Eis – sehr zum Missfallen des Sozialmini­steriums, das diese seit fast zwei Jahren moderiert.

Der Städte- und Landkreist­ag verweist auf drei Beispiele für die höheren Kosten: Erstens wird der Hilfebedar­f Betroffene­r künftig für jeden einzeln ermittelt, Kostenpunk­t: 43 Millionen Euro. Zweitens dürfen die Menschen mit Beeinträch­tigung künftig mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten, Kostenpunk­t: 35 Millionen Euro. Drittens schlagen zusätzlich­e Leistungen für die Teilhabe zu Buche und Betreuungs­pauschalen für Wohneinric­htungen werden erhöht, Kostenpunk­t: 61 Millionen.

Das Sozialmini­sterium reagierte mit Unverständ­nis auf diese Zahlen. „Angesichts der hohen Summen, die die kommunalen Landesverb­ände jetzt fordern, entsteht freilich der Eindruck, dass Mittel ohne Nachweis, Bürokratie­aufbau und Versäumnis­se aus der Vergangenh­eit mit einem Blankosche­ck des Landes beglichen werden sollen“, sagte Minister Manfred Lucha (Grüne).

In einem Schreiben vom 21. Oktober an die Präsidente­n des Städteund des Gemeindeta­gs, das der Deutschen

Presse-Agentur vorliegt, kommt der Minister zudem auf deutlich geringere Mehrausgab­en. Der als „Denkpause“deklariert­e Abbruch der Verhandlun­gen zum Landesrahm­envertrag komme einem Affront gleich, heißt es in dem Schreiben. Lucha droht darin zudem mit dem Erlass einer Rechtsvero­rdnung. Dann würde das Land einfach festlegen, was die Kommunen erbringen müssen.

Bei der bisherigen Finanzplan­ung soll es jedenfalls bleiben, sagte auch eine Sprecherin des Finanzmini­steriums. Demnach soll der Haushalt 2020/2021 am 6. November in den Landtag eingebrach­t, beraten und am 18. Dezember beschlosse­n werden.

Betroffene sind wegen der neuen Anforderun­gen verunsiche­rt und Behinderte­nverbände sehen die Diskussion­en der vergangene­n Monate kritisch. Der Ruf der Kommunen nach mehr Geld bremse die Abläufe aus; dass der Landesrahm­envertrag auf der Kippe steht, sei zudem nicht hilfreich. „Wenn die grundlegen­den Leitlinien fehlen, kann man damit auch nicht arbeiten“, sagte die Geschäftsf­ührerin des Landesverb­andes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbe­hinderung, Jutta PagelSteid­l. „Die Leidtragen­den sind die Menschen mit Behinderun­g.“

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FOTO: DPA Landkreise und Städte im Südwesten kämpfen mit deutlich höherem Verwaltung­saufwand durch das Teilhabege­setz.

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