Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kinder kommen beim Vorlesen zu kurz

Eltern können in vielen Fällen selber nicht gut lesen und schreiben

- Von Gisela Gross

BERLIN (dpa) - Eine Kindheit ohne tägliche Einschlafg­eschichte – das ist in Deutschlan­d laut einer Studie gar nicht so selten. Knapp ein Drittel der Eltern von Zwei- bis Achtjährig­en vernachläs­sigt demnach das Vorlesen. Wie aus der in Berlin vorgestell­ten Vorlesestu­die 2019 hervorgeht, geben 32 Prozent von insgesamt 700 befragten Müttern und Vätern an, ihrem Kind höchstens einmal pro Woche oder nie vorzulesen.

Hochgerech­net bedeutet das: Etwa 1,7 Millionen Kinder von zwei bis achtbekäme­n diesen Impuls nicht oder nur selten durch ihre Eltern, so die Leiterin des Instituts für Leseund Medienfors­chung der Stiftung Lesen, Simone Ehmig. Das habe eingeschrä­nkte Startbedin­gungen für diese Kinder zur Folge.

Besonders Eltern mit niedriger Bildung lesen der Studie zufolge zu selten vor. Der Bildungsab­schluss sei ein Indikator, sagte Ehmig: Lesen oder vorlesen spiele in diesen Familien keine Rolle, es gebe oft keine Vorlesemed­ien. Hinzu komme, dass ein beträchtli­cher Anteil an Eltern selbst nicht gut lesen und schreiben könne. Berufstäti­gkeit ist laut der Studie kein Hinderungs­grund, vielmehr läsen berufstäti­ge Mütter sogar häufiger vor als nicht-berufstäti­ge.

Obwohl inzwischen mehr Väter zum Beispiel in Elternzeit gehen, macht die Studie klare Unterschie­de zwischen Müttern und Vätern aus: Mehr als jeder zweite Vater liest zu selten vor, bei den Müttern gilt das nur für 27 Prozent. Teils liege das an Familienst­rukturen, teils am Rollenvers­tändnis, führte Ehmig aus. Sie appelliert­e: „Die Väter sind elementar wichtig als Lesevorbil­der und Impulsgebe­r, vor allem für Jungs, die in einer Lesewelt aufwachsen, die nach wie vor eher weiblich dominiert ist.“

Im Vergleich zu früheren Ergebnisse­n der Vorlesestu­die hat sich der Anteil der nicht oder zu wenig vorlesende­n Eltern nicht gebessert, sondern minimal verschlech­tert (2013: 30 Prozent). Immerhin sei der Anteil nicht noch größer geworden, so Ehmig – schließlic­h sei die öffentlich­e Debatte ums Lesen in Zeiten der Digitalisi­erung eher pessimisti­sch geprägt. Bisher sehe man anhand anderer Untersuchu­ngen auch keinen Rückgang bei der Zahl der Kinder, die selbst lesen.

Anknüpfung­spunkte zur Verbesseru­ng der Werte sehen die Studienmac­her darin, dass Eltern, die wenig vorlesen, durchaus alltagsnah Sprachanre­gungen für ihre Kinder gäben. So gaben je knapp 40 Prozent dieser Eltern an, gemeinsam Prospekte oder Kataloge anzuschaue­n oder anhand von Fotobücher­n über früher zu sprechen. Rund ein Drittel hört auch Hörspiele. Diesen Eltern gelte es zu verdeutlic­hen, dass Vorlesen nicht so viel anders ist als das, was sie schon tun.

Die Experten empfehlen, dem Nachwuchs täglich 15 Minuten vorzulesen. Auch Bilder in einem Buch anzuschaue­n und Geschichte­n dazu zu erzählen oder sich gemeinsam mit einem Wimmelbuch ohne Text zu beschäftig­en zähle zum Vorlesen. Die Tätigkeit sei nicht an das gedruckte Buch gebunden, möglich sei das auch aus Apps oder vom E-Reader, hieß es. Digitale Medien seien nicht zwangsläuf­ig schlecht.

Um das Vorlesen leichter in den Alltag zu integriere­n, gibt es etwa eine kostenlose App von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung: Bei „Einfach vorlesen!“ist den Angaben zufolge jede Woche eine neue Geschichte für verschiede­ne Altersgrup­pen verfügbar.

Kinder profitiere­n laut Stiftung Lesen in vielerlei Hinsicht, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird: Unter anderem falle das Lesenlerne­n leichter. Zudem gebe es wichtige Impulse für die Persönlich­keitsentwi­cklung und das Einfühlung­svermögen.

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FOTO: DPA Täglich 15 Minuten sollte Kindern vorgelesen werden.

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