Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zahl der Insekten dramatisch gesunken

Eine Studie zu drei Naturregio­nen Deutschlan­ds liefert wertvolle neue Zahlen

- Von Anja Garms

MÜNCHEN (AFP) - In den vergangene­n zehn Jahren ist die Zahl der Insekten in vielen Gegenden Deutschlan­ds einer neuen Studie zufolge dramatisch gesunken. Wie die TU München am Mittwoch mitteilte, stellte ein Wissenscha­ftlerteam unter ihrer Leitung zwischen 2008 und 2017 Rückgänge von teilweise 40 bis mehr als 60 Prozent fest.

MÜNCHEN (dpa) - Es gibt sie noch, die blühenden Wiesen, auf denen im Sommer unzählige Insekten summen und brummen. Doch es ist stiller geworden in vielen Naturlands­chaften Deutschlan­ds: Auf Wiesen und in Wäldern sind deutlich weniger Insekten unterwegs als noch vor einem Jahrzehnt, wie eine Studie unter Leitung von Forschern der Technische­n Universitä­t München (TUM) belegt. Die Wissenscha­ftler hatten in drei Regionen des Landes Insekten und andere Gliederfüß­er wie Spinnentie­re oder Tausendfüß­er in Wäldern und Graslandsc­haften gezählt. Zumindest in Letzteren hänge der Tierschwun­d vermutlich mit der Landwirtsc­haft zusammen, schreiben sie im Journal „Nature“.

Die Studie liefere den stärksten bisher verfügbare­n Beleg für den Rückgang der Insekten, schreibt William Kunin von der University of Leeds in einem Kommentar zu der Studie. „Das Urteil ist klar. Mindestens in Deutschlan­d ist der Insektensc­hwund real – und er ist so schlimm wie befürchtet.“Bisher gab es in Deutschlan­d nur vereinzelt größere Datensamml­ungen zur Entwicklun­g der Insektenza­hlen in den vergangene­n Jahrzehnte­n. Die Daten des Teams um Sebastian Seibold vom Lehrstuhl für Terrestris­che Ökologie der TUM erweitern das vorhandene Wissen erheblich.

Die Forscher hatten von 2008 bis 2017 regelmäßig Insekten und andere Gliederfüß­er an insgesamt 290 Standorten in folgenden Regionen gesammelt: im Raum Münsingen (Landkreis Reutlingen) auf der Schwäbisch­en Alb, im Hainich – einem bewaldeten Höhenrücke­n in Thüringen – sowie in der brandenbur­gischen Schorfheid­e. Die Wissenscha­ftler untersucht­en 150 Standorte in Graslandsc­haften jährlich zweimal. Mit Netzen sammelten sie die Tiere von der Grasfläche. Von den 140 Waldstando­rten wurden 30 jährlich unter die Lupe genommen, der Rest an drei Jahren innerhalb des Jahrzehnts. Sie fingen die Insekten dort mit Fallen.

Insgesamt analysiert­en die Wissenscha­ftler Daten von mehr als einer Million Insekten und anderen Krabbeltie­ren, die zu mehr als 2700 Arten gehörten. Sowohl auf Wiesen als auch in Wäldern ging die Artenzahl im Studienzei­traum um etwa ein Drittel zurück. Auch deren Gesamtmass­e nahm ab, besonders ausgeprägt in den Graslandsc­haften – um 67 Prozent. In den Wäldern schrumpfte sie um etwa 40 Prozent. Den Einfluss des schwankend­en Wetters berücksich­tigten die Forscher.

„Dass solch ein Rückgang über nur ein Jahrzehnt festgestel­lt werden kann, haben wir nicht erwartet – das ist erschrecke­nd, passt aber in das Bild, das immer mehr Studien zeichnen“, sagt Wolfgang Weisser von der TUM, einer der Initiatore­n des

Projekts.

Bundesumwe­ltminister­in

Svenja Schulze zeigte sich alarmiert: Die Studie führe ein weiteres Mal vor Augen, wie ernst die Lage sei, sagte die SPD-Politikeri­n. Die Bundesregi­erung arbeite an einer zügigen Umsetzung ihres Aktionspro­gramms Insektensc­hutz. „Eines belegt die Studie aber auch: Die Art und Weise der landwirtsc­haftlichen Nutzung entscheide­t maßgeblich mit, ob Insekten in der Umgebung überleben können“, sagte Schulze. Der dramatisch­e Rückgang der Insekten und seine Gründe werden seit einiger Zeit verstärkt diskutiert. Für Aufmerksam­keit sorgten vor allem die Analysen ehrenamtli­cher Insektenku­ndler des Entomologi­schen Vereins Krefeld, die auf einen

„Die Studie zeigt uns, dass die Landwirtsc­haft Teil der Lösung sein muss.“

Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverb­ands

massiven Insektensc­hwund in Teilen Deutschlan­ds schließen lassen. Den 2017 im Journal „PLOS ONE“vorgestell­ten Daten zufolge nahm die Gesamtmass­e an Fluginsekt­en dort von 1989 bis 2016 um mehr als 75 Prozent ab. Zuvor hatten bereits andere, vor allem regionale Studien einen Insektensc­hwund gezeigt.

„Bisherige Studien konzentrie­rten sich aber entweder ausschließ­lich auf die Biomasse, also das Gesamtgewi­cht aller Insekten, oder auf einzelne Arten oder Artengrupp­en“, sagt Sebastian Seibold, Leiter der aktuellen Studie vom Lehrstuhl für Terrestris­che Ökologie der TUM.

Um den möglichen Ursachen auf die Spur zu kommen, stellten die Forscher einen Zusammenha­ng zur Landnutzun­g an den einzelnen Standorten her. Diese reichte von Wiesen, auf denen nur einige Tage im Jahr Schafe weideten und die ansonsten weitgehend unberührt blieben, bis zu stark bewirtscha­fteten Flächen, die gedüngt und mehrmals jährlich gemäht wurden und/oder auf denen etwa ein Drittel des Jahres Rinder weideten. Auch die Waldfläche­n

unterteilt­en sie in Kategorien von wenig bis stark bewirtscha­ftet.

Insgesamt stellte das Team keinen unmittelba­ren Zusammenha­ng mit der regionalen Landnutzun­gsintensit­ät fest. Allerdings war der Insektensc­hwund auf solchen Grasfläche­n besonders ausgeprägt, die von landwirtsc­haftlich genutzten Ackerfläch­en umgeben waren. Dort schrumpfte vor allem die Biomasse solcher Arten, die keine großen Distanzen zurücklege­n. Möglicherw­eise hätten sie schlechter­e Chancen, Flächen (neu) zu besiedeln, wenn sie von viel Ackerland umgeben sind.

In den Wäldern schwanden vor allem Arten, die weite Strecken zurücklege­n. „Ob mobilere Arten aus dem Wald während ihrer Ausbreitun­g stärker mit der Landwirtsc­haft in Kontakt kommen oder ob die Ursachen doch auch mit den Lebensbedi­ngungen in den Wäldern zusammenhä­ngen, müssen wir noch herausfind­en“, erläutert Martin Gossner, ein weiterer beteiligte­r Forscher der TUM.

In der Verantwort­ung sieht sich auch der Deutsche Bauernverb­and. „Die Studie zeigt uns, dass die Landwirtsc­haft Teil der Lösung sein muss. Kaum eine Branche ist so essenziell auf die Bestäubung­sleistung von Bienen und Insekten angewiesen wie wir“, sagte Verbandspr­äsident Joachim Rukwied.

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FOTO: DPA Auf Wiesen und in Wäldern Deutschlan­ds sind inzwischen deutlich weniger Insekten unterwegs als noch vor einem Jahrzehnt. Das belegen neue Forschungs­ergebnisse.

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