Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
EZB-Chef tritt ab Warum Mario Draghi einen guten Job gemacht hat
Für deutsche Sparer galt er während seiner Amtszeit als ein Albtraum: Mario Draghi tritt nun als EZB-Chef ab. Warum die Kritik an ihm nicht gerechtfertigt ist.
Das Verhältnis Deutschlands zu Europa umschreiben Idealisten gerne so: Es braucht kein deutsches Europa sondern ein europäisches Deutschland. Das funktioniert auch. Die Deutschen sind gute Europäer. Mit einer Ausnahme: Wenn es um’s Geld geht, trauern viele der geliebten D-Mark hinterher. Mit dem Euro ist der Deutsche eher in einer Hassliebe verbunden. Für die Stabilität des Euro zuständig ist die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt. Deren Präsident Mario Draghi scheidet nun nach acht sehr turbulenten Jahren an den Finanzmärkten aus dem Amt. Liest man die Kommentare in den deutschen Leitmedien zu diesem Anlass, so könnte man auf die Idee kommen, dass die meisten Leitartikler eine „Deutsche EZB“wollen – und eben keine „Europäische Bundes- oder Zentralbank“.
Das ist ein großes Missverständnis und wird Mario Draghi nicht gerecht. Denn das Beiwort, wie man Geldpolitik zu machen hat, macht den Unterschied: europäisch. Selbstverständlich wären in Deutschland angesichts des zurückliegenden Wirtschaftsbooms die Zinsen höher, der Wechselkurs wäre einer D-Mark stärker aufgewertet, und ein Kauf von Bundesanleihen wäre nicht notwendig gewesen. Es gibt aber die Bundesrepublik als unabhängigen Wirtschaftsraum mit eigener Währung nicht mehr. Wenn man eine Währung für Europa hat, kann man sie nicht am geldpolitischen Gusto eines Landes ausrichten. Die EZB ist zuständig für ein Gebiet, das von Süditalien und Griechenland bis zu den baltischen Staaten und bis hoch an die finnische Grenze zu Russland reicht. Eine solche Heterogenität ist mit der Unterschiedlichkeit der deutschen Bundesländer nicht vergleichbar.
Diese politisch geformte Eurozone ist das Problem von Mario Draghi, was man sehr gut an den beiden Problemländern Deutschland und Italien aufzeigen kann: Deutschland steht als
größte
Volkswirtschaft für knapp 30 Prozent der Eurozone und exportiert 500 Milliarden von insgesamt 1,3 Billionen Euro in dieselbe bei einem Gesamtüberschuss von über 200 Milliarden Euro. Viele deutsche Waren in Euro sind im Grunde billiger, als wenn es noch eine höher bewertete D-Mark gäbe. Gerade in der Eurozone profitieren deutsche Exporteure. Und diese Stärke macht es zu einem Problemland der Eurozone. Das andere Problemland ist das Heimatland des scheidenden EZBPräsidenten: Italien, das in seiner Entwicklung nicht nur Deutschland, sondern der ganzen Eurozone hinterherhinkt.
Wieso darf man das so sagen? Deutschland erwirtschaftet 3,3 Billionen Euro (2018) des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Eurozone, Italien immerhin 1,75 Billionen Euro. So weit, so gut, aber Deutschland hat nur noch Schulden von 2,1 Billionen Euro – eine Quote von rund 60 Prozent des eigenen BIP. Italien hingegen hat inzwischen 2,4 Billionen Euro Schulden, was sich zu 135 Prozent des italienischen BIP auftürmt. Nur Griechenland hat mit 180 Prozent eine höhere Verschuldung, aber das sind absolut „nur“rund 350 Milliarden Euro. Zu Beginn von Draghis Amtszeit waren die Schulden in Deutschland und Italien absolut ungefähr auf gleicher Höhe. Während Deutschland in der Zeitspanne die Schuldenquote von mehr als 80 auf 60 Prozent verbessert hat, hat sich Italien von 115 auf 135 Prozent verschlechtert.
Auge auf den Schwächsten
Mit anderen Worten: Deutschland hat jede Chance der lockeren Draghi’schen Geldpolitik in der Hochkonjunktur genutzt, Italien fast jede Chance auf dem Wachstumspfad locker ausgelassen und nominal auch noch mehr Schulden gemacht. So eine Diskrepanz im Haushaltsgebaren in einem Währungsraum unter einen Hut – oder wie die „Bild“-Zeitung schrieb: unter eine „preußische Pickelhaube“zu bekommen, ist eigentlich unmöglich. Was man dann tun kann und Draghi getan hat, ist, sich am Schwächeren auszurichten und die Zinsen nach unten und sogar unter Null zu drücken. Würden er und die EZB sich am Stärkeren ausgerichtet haben, wäre Italien pleite. Italien ist für die Eurozone ein Risiko wie Griechenland – allerdings in einer XXL-Version.
Erstes Fazit: Draghis Zinspolitik ist unter europäischen Gesichtspunkten nicht wirklich zu kritisieren. Und diese Zinspolitik hat Deutschland enormen Schub gebracht. Das Jammern des deutschen Sparers ist nur auf den ersten Blick gerechtfertigt. Die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken als Wächter der Vermögen des kleinen Mannes hätten mehr darauf aufmerksam machen müssen, dass man auch mit kleinen Beträgen in Immobilienoder Aktienfonds hätte investieren können. Zum Amtsantritt von Draghi lag der Dax bei 6000 Punkten, heute sind es weit mehr als 12 000
Punkte. Das Problem der Nullund Negativzinsen und der damit fehlende Preis für Geld soll damit nicht kleingeredet werden, aber Sparbücher und Lebensversicherungen sind eben nicht alternativlos. Man muss sich allerdings damit auseinandersetzen. Ungefähr so lange wie für den Kauf eines Autos.
„Whatever it takes“
Zweites Fazit: Draghi hat mit wenigen Sätzen – und nicht nur mit den berühmten Worten „Whatever it takes“– den Euro vor dem Spekulationsangriff der Märkte gerettet. Die Zinsabstände zwischen deutschen und ja, wiederum italienischen Anleihen waren im Sommer 2012 so in die Höhe geschossen, dass die Zerreißprobe bevorstand. „Innerhalb des Mandats“, was Draghi bei seiner Rede in London zweimal wiederholte, war die EZB bereit, „alles zu tun, um den Euro zu erhalten“. Sein Zusatz „Glauben Sie mir, es wird genug sein“hatte den Spielern am Devisenmarkt seine Ernsthaftigkeit klargemacht. Draghi hat die Drohung nie wahrmachen müssen – ein sensationeller Erfolg für den EZB-Präsidenten.
So gesehen könnte „Super-Mario“, wie er zwischenzeitlich genannt wurde, verdient in Rente gehen, aber es gibt noch zwei weitere Aspekte: Zum einen hat Draghi von 2015 an Staatsanleihen im großen Stil aufgekauft und die Bilanz der EZB auf 4,5 Billionen Euro – rund 45 Prozent des BIP in der Eurozone – aufgebläht. Er musste das tun, weil die Finanzierung der Wirtschaft über den normalen Geldkreislauf über die Banken nicht mehr funktioniert hat. Er ließ die EZB also bei Geschäftsbanken Staatsanleihen kaufen – mit dem Ziel, dass die Zinsen sinken, die Inflation steigt und die Geschäftsbanken das frei gewordene Geld als Kredite an Unternehmen ausgeben. Das gigantische Programm von 2,6 Billionen Euro bis Ende 2018 ist der komplizierte Teil einer Geldpolitik, die es brauchte, um eine Inflation von so ungefähr zwei Prozent zu erreichen, was mal mehr und mal weniger gelungen ist. Grosso Modo ist Draghi auch dieser Teil gelungen, wobei die Frage bleibt, was die EZB mit den in der Bilanz angehäuften Anleihen auf Dauer macht.
Schwieriges Erbe für Lagarde
Warum Draghi aber – nach Aussagen vieler Experten unnötigerweise – dieses Programm gegen viele Widerstände vor wenigen Wochen wieder aufgenommen hat und von November an 20 Milliarden Euro im Monat aufkaufen will, können auch Draghi-Wohlgesonnene nicht wirklich verstehen. Falls das überhaupt nötig sein sollte, hätte er das ohne Probleme seiner Nachfolgerin Christine Lagarde überlassen können. So ist der Handlungsspielraum der neuen EZB-Präsidentin von Beginn an eingeengt. Das ist überhaupt das größte Problemen der EZB in
Zukunft:
Das Arsenal auch für unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen ist im Grunde ausgeschöpft. Anders als die Zentralbank Fed in den USA hat sich die EZB keinen Spielraum geschaffen, beispielsweise die Zinsen weiter senken zu können.
Zum anderen bleibt als letzter Aspekt die „Politisierung der EZB“: Die Geldpolitik hat sich von der Fiskalpolitik in eine Teilhaftung nehmen lassen, auch wenn Mario Draghi das von sich weisen würde. In der reinen Lehre ist eine Notenbank für die Geldpolitik zuständig, sie steuert die Geldmittel und so die Inflation. Die Haushaltspolitik ist die Sache der Regierungen, sie haben dafür zu sorgen, sich in ihren Ausgaben nicht so zu verschulden, dass der Schuldendienst den Staatshaushalt abwürgt. Kritiker werfen Draghi allerdings vor, dass er das Mandat der EZB überdehnt habe, indem er durch seine Anleihkäufe Staaten Luft verschaffte, die sich ohne ihn wohl nicht an den Märkten hätten Geld verschaffen können.
Wahrscheinlich ging es, beginnend mit Griechenland und im Nachgang der Finanzkrise, nicht anders, weil es die heutigen Rettungsmechanismen noch nicht gab. Aber: Wenn man sich politisieren lässt, dann muss man der Politik auch klarer sagen, was man von ihr erwartet: Insbesondere einem Land wie Italien, das die niedrigen Zinsen nicht genutzt hat, um seinen Haushalt in den Griff zu bekommen, müsste man klar und deutlich – es heißt ja auch: deutsch und deutlich – sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Ein italienischer Preuße und Europäer wie Draghi hätte das tun können.
Makel in der Bilanz bleiben
Die Wiederaufnahme des Anleihekaufprogramms und der fehlenden politischen Auseinandersetzung bleiben als Makel in der Bilanz des EZB-Präsidenten Mario Draghi. Natürlich ist das nur zum Teil seine Schuld und entlässt die Politik nicht aus der Verantwortung, alles zu tun, um den Euro zu sichern. Die neue EZBPräsidentin Christine Lagarde ist deutlich politischer als Draghi ausgebildet und wird hoffentlich wissen, wie man sich aus der politischen Haftung wieder lösen kann. Im Gegensatz zu deutschen EZB-Vertretern wie Jürgen Stark, Jörg Asmussen und Sabine Lautenschläger, die alle das Direktorium der Notenbank vor Ende ihrer Amtszeit verlassen haben und den Kampf nicht ausgefochten haben, muss nun eine Französin die verloren gegangene Eigenständigkeit der EZB, auf die gerade deutsche Notenbanker so viel Wert legen, wiedererlangen. Preußische Tugenden sind da gefordert.
Zur ganzen Wahrheit der Amtszeit Draghis gehört auch, dass er wahrscheinlich kein EZBPräsident geworden wäre, wenn Bundesbank-Präsident Axel Weber nicht zurückgetreten wäre, um in der Folge als EZB-Chef gar nicht erst anzutreten. Weber verdient inzwischen Millionen in Schweizer Franken bei der UBS in Zürich. Man mag es ihm ja gönnen, aber die Ausrichtung einer „Deutschen EZB“oder „Europäischen Bundesbank“hätte er beeinflussen können. Aber für Deutschland besteht Hoffnung. Denn in acht Jahren steht ein junger Mann bereit, der Deutschland und der Eurozone bis dahin 16 Jahre als BundesbankPräsident gedient haben wird: Jens Weidmann, der 2028 mit 60 Jahren im besten EZBPräsidentenalter sein wird. Draghi war bereits 64 Jahre, als er EZB-Präsident wurde.