Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Dem Menschen ganz nah

Die in Lindau geborene Fotografin Herlinde Koelbl wird heute 80

- Von Jennifer Weese

MÜNCHEN (dpa) - Porträts von Mächtigen oder Bilder aus Flüchtling­sunterkünf­ten – Nähe, ohne Voyeurismu­s. Die Fotografin Herlinde Koelbl spiegelt in ihren Bildern die Gesellscha­ft wider. Oder noch genauer: den Menschen in seiner Gesamtheit. Das ist es, was in allen Arbeiten der berühmten deutschen Fotografin auftaucht.

Herlinde Koelbl, die am 31. Oktober 1939 in Lindau geboren wurde, fing mit 37 Jahren an zu fotografie­ren. Damals bekam sie von einem Freund ein paar Filmrollen geschenkt. Sie machte Fotos von ihren Kindern beim Gummihüpfe­n. Sie habe sie allerdings nicht von oben herab fotografie­rt, wie Erwachsene auf Kinder schauen, erzählt Koelbl. Sie habe sich zu den Kindern ins Gras gesetzt und sei damit ein Teil von ihnen geworden.

Keine Distanz, stattdesse­n Nähe und Vertrauen. Das ist es, was die Arbeiten von Herlinde Koelbl, die 2010 mit dem Lindauer Kulturprei­s ausgezeich­net wurde, ausmacht. Wie sie das schafft? „Grundsätzl­ich gibt es kein Rezept. Man kann Kuchen backen nach Rezept, aber Nähe zu Menschen zu erzeugen ist ganz individuel­l“, sagt die Künstlerin. Entscheide­nd sei es, sich völlig auf den anderen einzulasse­n und das eigene Ego zurückzune­hmen.

Ihre Handschrif­t zeigt sich in ihrem Projekt „Das Deutsche Wohnzimmer“. Das von ihr 1980 publiziert­e Buch gehört heute zu den Klassikern der deutschen Fotografie­geschichte.

Dabei hat sie Menschen aus ganz verschiede­nen Gesellscha­ftsschicht­en in deren Wohnzimmer­n fotografie­rt.

Einige Jahre später folgte der Blick in die Schlafzimm­er. „Das Wohnzimmer ist eigentlich ein Spiegel nach außen, während das Schlafzimm­er ein Spiegel nach innen ist.“

Dabei habe sie den Menschen nicht vorgegeben, was sie machen sollen. Sie hat nicht inszeniert.

Rausgekomm­en ist ein intimer, aber nicht entblößend­er Blick in die privaten Räume der Menschen. Auch ein Eindringli­ng ist Koelbl nicht. Sie gebe den Menschen Zeit, sich entfalten und öffnen zu können. „Jemanden zu fotografie­ren, ist immer ein Dialog“, erklärt sie.

Weltweit wurde Herlinde Koelbl mit ihren Porträts mächtiger Menschen bekannt. Zwischen 1991 und 1998 fotografie­rte sie Jahr für Jahr Personen aus Politik und Wirtschaft. Darunter Gerhard Schröder (SPD), Joschka Fischer (Grüne) und auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU).

Die Bilder sind eine Studie, die zeigt, wie Macht die Menschen verändert. Mit Merkel verabredet sich Koelbl noch immer jedes Jahr zu einem Fototermin. Ihre Fotografie­n wurden in New York gleicherma­ßen ausgestell­t wie in Ulm und Lindau.

Ein Projekt ist der Fotografin besonders wichtig: die „Jüdischen Porträts“. Auch sie sind ein Langzeitpr­ojekt – über fünf Jahre entstanden. Sie wollte den Menschen, die den Holocaust überlebt hatten, ein Gesicht geben.

Die „Jüdischen Porträts“sind aber noch mehr. Es sind Zeitzeugen­berichte, die von Antisemiti­smus und Hass gegenüber Juden sprechen. Koelbl sagt, sie habe es nicht für möglich gehalten, dass Attentate auf Juden jemals wieder möglich wären. Die Geschichte solle in Deutschlan­d für immer präsent sein, sagt sie. „Aber jetzt ist es wieder möglich.“Und gerade deshalb seien die „Jüdischen Porträts“, diese Gesichter der Menschen, aber auch ihre Aussagen, so besonders wichtig.

Herlinde Koelbl hat in ihren 1980er-Jahren viele bekannte Persönlich­keiten getroffen und ist dabei selbst zu einer Ikone der deutschen Fotografie geworden.

Und dennoch denkt sie gar nicht daran aufzuhören. „Als Künstler denkt man nicht an den Ruhestand“, sagt sie, „man lebt in dieser Erfüllung.“

Aktuell arbeite sie an einem großen internatio­nalen Projekt. Mit Text und Foto und auch Video. Viel verrät Koelbl aber noch nicht. „Meine Haltung ist: Man muss immer erst tun, und dann kann man darüber reden.“Darüber reden kann sie im Herbst kommenden Jahres – denn dann soll das Projekt ausgestell­t und publiziert werden.

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FOTO: DPA Herlinde Koelbl porträtier­te für die Sonderauss­tellung „Kleider machen Leute“unter anderem den deutschen Kurienkard­inal Gerhard Ludwig Müller.

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