Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bedrohte Inselwelt
Noch kann Vietnams Halong-Bucht in den Bann ziehen, doch Touristenmassen und Plastikmüll machen ihr zunehmend zu schaffen
Auf der Bucket-Liste (Dinge, die man unbedingt machen sollte) aller Vietnamreisenden steht die Halong-Bucht im Norden des südostasiatischen Landes ganz oben. Da Vietnam sowieso seit Jahren als Reiseland boomt, wundert es also wenig, dass gerade dieser Landstrich derzeit einen regelrechten Touristen-Tsunami erlebt. Der wütet zwar nicht ganz so verheerend wie die zerstörerische Riesenwelle, seine Auswirkungen werden allerdings bereits während der Anreise sichtbar. Auf der erstaunlich gut ausgebauten Straße von der Hauptstadt Hanoi nach Halong-City sind fast ausschließlich Touristenbusse oder Vans mit VIP-Urlaubern unterwegs. Und Halong-City selbst, einst ein beschauliches Fischerdorf an der Nordküste, ist zum Las Vegas Vietnams mutiert: Vergnügungszentren, Delfinshows, Kasinos, noble Luxusresorts und schummrige Karaokebars schießen wie Pilze aus dem Boden. Hunderte Kräne und mindestens so viele Hochhaus-Rohbauten lassen befürchten, dass der Bauboom wohl noch lange anhalten wird. Und waren es vor zehn Jahren rund 200 Boote, sind es heute mindestens zehnmal so viele, die an den kilometerlangen Kais rund um Halong-City darauf warten, mit Urlaubern an Bord für zwei oder drei Tage hinaus in die berühmte Bucht zu fahren.
Wer gehofft hatte, dem faszinierenden, aber anstrengenden Hanoi mit Millionen Menschen, wenig Platz, unzähligen Mopeds und schlechter Luft durch nur zwei Stunden Autofahrt in die einsame Natur entfliehen zu können, wird erst einmal enttäuscht sein. Denn noch ist von der einzigartigen Landschaftsformation aus Felsen und Meer, die zum Unesco-Weltnaturerbe gehört, wenig zu sehen. Und wenn Hunderte von Schiffen ihre Dieselmotoren starten und langsam im Konvoi aus der Bucht tuckern, lädt die Luft auch nicht zum tief Durchatmen ein. Erster Trost: Unser Premiumboot der Bhaya-Kompanie ist zwar keine historische Dschunke mit den typischen braunroten, gerippten Segeln, hat aber zum Glück auch nichts mit den mehrstöckigen, alten, oft rostigen Stahlschiffen für Tagesausflügler gemein. Die Bhaya 5 ist klein und fein und nimmt nur zehn Passagiere an Bord, die von einer freundlichen und aufmerksamen Crew versorgt werden. Allen voran Reiseleiter Phué, der seine Gäste herzlich begrüßt und verspricht, dass die dreitägige Tour ein einzigartiges Erlebnis werden wird.
Dass dies kein leeres Versprechen bleibt, ist auch Kapitän Phuong zu verdanken. Er schert aus dem Konvoi aus, kaum dass die Bhaya 5 ihre Anlegestelle verlassen hat, sucht einen eigenen Weg durch die fast 2000 Inseln und kennt Ankerplätze für die Nacht, über denen nur die Sterne funkeln und nicht die Positionslampen zig anderer Schiffe. Ein Glück auch, dass wir zu den nur 20 Prozent aller Halong-Bucht-Besuchern gehören, die eine dreitägige Tour gebucht haben. So bleibt genügend Zeit, einsame Umwege zu fahren, zu schwimmen, zu paddeln, in der Sonne zu dösen und schließlich fast bis zum offenen Meer hinauszuschippern. Schnell erschließt sich der Zauber der begrünten Inselwelt, von der Legenden behaupten, sie sei durch wütende Drachen geschaffen worden, die mit ihren riesigen Schwänzen das Land zertrümmerten. Die Wissenschaft spricht nüchtern von geflutetem Karstgebirge. Doch viel mehr mag man den Mythen glauben, wenn im Dunst die Inseln und Inselchen auftauchen, und dahinter die nächsten, dann schon die übernächsten ... Wie unendliche Bergketten liegen sie in einem smaragdfarbenen Meer.
Schwimmende Fischerdörfer
Die Passagiere erleben diese faszinierende frühmorgendliche Szenerie nur, weil der Kellner und Barkeeper der Bhaya 5 bereits um 6.30 Uhr zum Tai Chi aufs Oberdeck bittet. „We do it slowly, very slowly“, ermahnt er. Und so langsam wie seine und unsere Bewegungen sind, so langsam taucht die Sonne auf, bricht sich Bahn durch die Wolkendecke und schickt erste Strahlen auf Bergkuppen, Baumwipfel und Schaumkronen. Nach einem solch speziellen Start in den Tag und einem üppigen Frühstück im Bordrestaurant ist der Unternehmungsgeist hellwach.
Es wäre zwar auch vorstellbar, den ganzen Tag faul in einem der Deckchairs zu liegen und einfach die sagenhafte Insellandschaft langsam vorbeiziehen zu lassen, aber durchaus schade. Denn in der HalongBucht gibt es außer bewaldeten Kuppen, schroffen Felswänden, malerischen Sandstränden und fantasieanregenden Steinformationen einiges zu entdecken. So leben hier zum Beispiel rund 1000 Menschen in sieben schwimmenden Fischerdörfern. Eines der größten ist Cua Van, in dem auch Touristen gerne gesehen werden und einen Einblick ins Alltagsleben dieser Menschen erhalten. Mehrere Tropfsteinhöhlen gibt es in der Bucht zu besichtigen, genauso wie eine schwimmende Perlenfarm, auf der Besuchern demonstriert wird, wie die Perlmuttkugel in die Auster kommt, dort heranwächst und schließlich zu Ketten, Ringen und Ohrringen kunstvoll verarbeitet wird.
Auch unser 37-jähriger Reiseleiter Phué hat viel zu erzählen – nicht nur über die Halong-Bucht und ihre Sehenswürdigkeiten. Abends setzt er sich gerne mit seinen Gästen aufs Oberdeck, schildert das Leben im heutigen Vietnam und berichtet von seiner Familie, die auf dem Festland ganz in der Nähe von ein wenig Landwirtschaft lebt. Seit achteinhalb Jahren arbeitet Phué als Reiseleiter und stellt sich auch den kritischen Fragen der Touristen. Dabei geht es genauso um Politik wie um gesellschaftliche Zwänge und Probleme. Nur zum Thema Plastikmüll, der mittlerweile auch schon in der Halong-Bucht herumschwimmt, sucht er eine fadenscheinige Ausrede: Die Chinesen würden ihn im Norden ins Meer werfen, und Wind sowie Strömung dann dafür sorgen, dass Plastiktüten, Flaschen und ähnliches in die Bucht treiben. Aber wir hätten ja Glück, fügt Phué mit einem Lächeln an: Bei einer dreitägigen Tour komme man so weit raus, dass der Müll immer weniger wird. „Oder haben Sie heute viel Müll gesehen?“, fragt er am letzten Tag der Mini-Kreuzfahrt. Außerdem bezahle die Regierung Männer und Frauen, die das Plastik aus der Bucht fischen. Tatsächlich haben wir ein einziges Bötchen gesehen, auf dem eine Frau mit einem kleinen Kescher die eine oder andere Plastiktüte aus dem Wasser zog.
Das weltweite Müllproblem wird noch lange für Diskussionen sorgen, auch in der Halong-Bucht, wo Phué es irgendwann nicht mehr ignorieren oder verharmlosen kann. Es ist inzwischen dunkel geworden – das Plastik im Wasser sieht man nicht mehr. Zeit für Phué, vietnamesische Mythen und Märchen zu erzählen, während sich die markanten Kalksteininseln wie schwarze Wächter aus dem Wasser erheben oder im fahlen Mondschein als Karawane buckliger Elefanten an der Bhaya 5 vorbeiziehen.
Die Recherche wurde unterstützt vom Reiseveranstalter Geoplan Privatreisen (www.geoplanreisen.de), der dreitägige Kreuzfahrten in der Halong-Bucht organisiert, und von der Fluglinie Edelweiß, die zweimal wöchentlich ab Zürich direkt nach Ho-Chi-MinhCity (Saigon) fliegt.