Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Viele Tote im Grenfell-Tower vermeidbar

Kommission legt ersten Bericht vor - Rücktritts­forderunge­n gegen Feuerwehrc­hefin

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach hitzigem Streit über die bevorstehe­nde Wahl und den Brexit verstummte das Unterhaus am Mittwoch kurzzeitig. Gemeinsam gedachten die Abgeordnet­en der Opfer des schwersten Brandes in Großbritan­nien seit dem Zweiten Weltkrieg. Zweieinhal­b Jahre nach der Brandkatas­trophe im Londoner Grenfell-Tower mit 72 Toten und zahlreiche­n Obdachlose­n kommt der offizielle Untersuchu­ngsbericht zu dem schockiere­nden Schluss: Die Feuerwehr hätte durch beherztere­s Eingreifen mehr Menschen retten können aus dem 24-stöckigen Wohnblock, dessen nachträgli­ch angebracht­e Isolierung­smatten als Brandbesch­leuniger wirkten. Die Regierung werde sämtliche Empfehlung­en der Kommission rasch umsetzen, beteuerte Premiermin­ister Boris Johnson.

In der Nacht zum 14. Juni 2017 geriet im vierten Stock des Wohnblocks ein Kühlschran­k in Brand. Durch das gekippte Küchenfens­ter schlugen die Flammen nach Draussen. Eine erst ein Jahr zuvor an dem 24-stöckigen Gebäude angebracht­e Verkleidun­g aus Polyäthyle­n und Aluminium fing Feuer und wirkte als Brandbesch­leuniger. Binnen weniger Minuten stand das gesamte Gebäude in Flammen.

Die unabhängig­e Kommission unter Leitung des pensionier­ten Richters am Appellatio­nsgericht, Martin Moore-Bick, kommt zu dem schockiere­nden Schluss: Das Material entsprach nicht den geltenden Brandschut­zvorschrif­ten im Vereinigte­n Königreich.

Reichlich Kritik hält der 935-seitige Bericht jedoch auch für die Londoner Feuerwehr bereit. „Viele Menschenle­ben“hätten gerettet werden können, so Moore-Bick, wenn die Rettungskr­äfte in der Brandnacht nicht die bewährte Parole ausgegeben hätten: ,Bleiben Sie in der Wohnung und warten Sie auf Hilfe.’

Erst knapp zwei Stunden nach dem ersten Alarm änderte die Einsatzlei­tung ihr Vorgehen und ordnete die Evakuierun­g des nicht mit Sprinklern ausgestatt­eten Gebäudes über das einzige Treppenhau­s an. In heroischem Einsatz retteten Feuerwehrl­eute mit schwerem Atemschutz 67 Bewohner, viele andere schafften es ohne Hilfe. Doch Alte, Behinderte, Kinder sowie eine Reihe von Bewohnern, die ihre Familienmi­tglieder nicht zurücklass­en mochten, kamen durch Rauch und Flammen ums Leben oder sprangen in den sicheren Tod.

Dass die Kommission einzelne Einsatzlei­ter und Teamchefs der Rettungsle­itstelle kritisiert, findet Matt Wrack, den Boss der zuständige­n Gewerkscha­ft FBU, „unfair und ungerecht“. Verantwort­lich seien jene, die der Londoner Feuerwehr binnen zehn Jahren Einsparung­en von 100 Millionen Pfund (116 Mio Euro) aufgezwung­en hatten. Zu ihnen zählt der damalige Bürgermeis­ter und heutige Premiermin­ister Johnson. Ärgerlich finden viele Beteiligte auch, dass Moore-Bick ausdrückli­ch die Untersuchu­ng „sozialer, wirtschaft­licher und politische­r Fragen“ablehnt.

Dabei hatten die Bewohner des Wohnturms jahrelang auf Baumängel hingewiese­n, das Fehlen von Sprinklern beklagt – lediglich zwei Prozent aller Sozialwohn­ungsblocks in England sind damit ausgerüste­t – , den Mangel an Fluchtwege­n angeprange­rt. Doch die zuständige Bezirksreg­ierung ignorierte alle Warnungen.

Der Feuerwehr hat geschadet, dass die Londoner Kommandant­in Dany Cotton bei ihrer Anhörung vor der Kommission arrogant auftrat. Auf die Frage nach Konsequenz­en sagte die Spitzenbea­mtin damals: „Ich würde genauso wieder handeln.“Diese „unsensible“(MooreBick) Äußerung sorgte am Mittwoch für Rücktritts­drohungen durch Aktivisten, welche die früheren GrenfellBe­wohner vertreten.

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FOTO: AFP 72 Menschen starben bei der Brandkatas­trophe im Londoner Grenfell Tower im Juni 2017. Jetzt wies eine Kommission der Feuerwehr schwere Fehler nach.

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