Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Überlegungen zu Thüringen
Zu den Leitartikeln „Großer Schaden für die Liberalen“(7.2.) und „Erfurter Schande, Berliner Problem“(6.2.):
Ist die Lage der Dinge wirklich so einfach? Die Wahlgänge sind geheim, die Protagonisten können also mindestens theoretisch gar nicht wissen, wie die anderen Fraktionen oder einzelne abstimmen. Wenn die Abgeordneten der Linken, der CDU, der SPD, der Grünen und der FDP aus Angst und auf der Basis von Vermutungen, die AfD könnte einen bestimmten Kandidaten unterstützen, taktisch abstimmen, wird der Demokratie kein Dienst erwiesen. Auch wenn das wahrscheinlich zu viel der Ehre für die AfD ist, damit könnte man sagen, die AfD hätte es geschafft, die demokratischen Kräfte gegeneinander auszuspielen. Die Angst vor dem Verhalten der AfD würde letztlich das Abstimmungsverhalten bestimmen. Die Abgeordneten sollten sich nicht beirren lassen von solch taktischen Überlegungen und Mutmaßungen, die letztlich zu nichts führen – und gleichzeitig eine klare Linie gegenüber der AfD verfolgen: Reden ja, aber keine Zusammenarbeit, keine Gegenleistungen. Wenn die AfD für Projekte der anderen Fraktionen stimmt, ist das nicht automatisch eine Zusammenarbeit und heißt nicht, dass diese nun auf einmal schlecht sind. Es ist dies der Versuch, einen Tabubruch zu verhindern, indem man das Tabu möglichst weit ins Vorfeld verlagert. Dabei ist nicht so sehr die immer weiter vorverlagerte Definition des Tabus im Kampf gegen verquere Ideologien entscheidend, sondern die konsequente Bewusstmachung und Einhaltung desselben. Politik war schon immer die Kunst des Möglichen, die Reaktion auf die AfD lässt eine Nicht Politik befürchten, was eine Hängepartie und dadurch auch Politikverdrossenheit zur Folge hätte.
Samuel Müller, Trossingen