Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mangelware Beatmungsgerät
Die Hersteller von Medizintechnik kommen mit der Produktion nicht mehr nach
RAVENSBURG - Sie sind in der anrollenden Coronavirus-Pandemie dringendst gesucht: Beatmungsgeräte. Zwei kanadische Krankenhäuser gehen nun einen ungewöhnlichen Weg. Sie haben einen Wettbewerb ausgeschrieben. Gebaut werden soll ein simples, einfach nutzbares Beatmungsgerät für Covid-19-Patienten. Und es muss schnell gehen. Einsendeschluss ist bereits der 31. März. Die besten drei Vorschläge sollen am 15. April veröffentlicht und weltweit zum gebührenfreien Nachbau zur Verfügung gestellt werden. Das nach Ansicht der mit medizinischem Fachpersonal besetzten Jury vielversprechendste Projekt wird mit umgerechnet 130 000 Euro belohnt.
Aufgrund der Corona-Krise herrscht derzeit ein eklatanter Mangel an Beatmungsmaschinen und Ersatzteilen. Die Zahl beatmungsbedürftiger Patienten steigt nicht nur exponentiell an, sie müssen oft auch deutlich länger als andere Intensivpatienten beatmet werden. In Norditalien, dem Epizentrum der Tragödie, sind Ärzte wegen knapper Ressourcen bereits gezwungen, über Leben und Tod zu entscheiden, wenn sie einen Patienten an ein Beatmungsgerät anschließen und damit andere Menschen ersticken lassen.
In Deutschland hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verfügt, die Anzahl der Intensivbetten, die als Beatmungsplätze genutzt werden können, von derzeit 28 000 zu verdoppeln. Die Bundesregierung hat sich dabei direkt mit Aufträgen an die Hersteller von Beatmungsgeräten gewandt. Das zeigt den Ernst der Lage. Der Medizinund Sicherheitstechnikanbieter Drägerwerk aus Lübeck hat eine Order über 10 000 Beatmungsgeräte aus Berlin erhalten – die mit einem geschätzten Volumen von 200 Millionen Euro größte Bestellung in der Geschichte des Konzerns. Und der Wettbewerber Löwenstein Medical aus dem rheinland-pfälzischem Bad Ems soll „im Laufe der kommenden drei Monate“6500 Beatmungsgeräte verschiedener Klassen liefern.
Die beiden Hersteller arbeiten – wie die Konzerne GE, Medtronic und Becton-Dickinson in den USA, Philips in den Niederlanden, Getinge in Schweden und Hamilton in der Schweiz auch – seit Wochen auf Hochtouren. Löwenstein hat bereits im Februar die Fertigung hochgefahren weil die Nachfrage aus China plötzlich explodierte. „Wir konzentrieren uns jetzt voll und ganz auf unseren Versorgungsauftrag“, ließ die
Geschäftsführung des mittelständischen Familienunternehmens in einer Mitteilung wissen und bittet deshalb darum, von „weiteren Presseanfragen zur aktuellen Situation“abzusehen.
Und auch Drägerwerk hat seine Produktionskapazitäten wegen der hohen Nachfrage erheblich ausgeweitet. Vorstandschef Stefan Dräger zufolge produziere man aktuell rund doppelt so viele Beatmungsgeräte wie vorher. Um die Order der Bundesregierung abzuarbeiten, muss der Konzern seine Kapazitäten am Standort in Lübeck im Rekordtempo weiter vergrößern. Dabei geht es nicht nur um die Herstellung der Geräte, sondern auch um Testräume, von denen es bisher zu wenig gibt.
Zudem sind Komponentenzulieferer derzeit schwer zu finden, und Lieferungen gehen auch ins Ausland, zuletzt nach Italien. „Deshalb verfolgen wir die Lieferkette aktuell mit
Einsatzgruppen engmaschig, um ausreichend Nachschub zur weiteren Produktionsausweitung zu bekommen“, erklärt Drägerwerk-Firmensprecherin Melanie Kamann.
Angebot und Nachfrage klaffen trotz aller Bemühungen der Anbieter weit auseinander. Schätzungen zufolge liegt das Marktvolumen für Beatmungsgeräte weltweit bei etwa vier Milliarden US-Dollar, die Preise für die Apparaturen – je nach Komplexität – bei 20 000 Euro an aufwärts. „Wir nehmen derzeit jedes Beatmungsgerät, das wir kriegen können“, schildert der Präsident der Hessischen Krankenhausgesellschaft, Christian Höftberger, stellvertretend die Ausnahmesituation. Reservegeräte würden in Betrieb genommen, neue angekauft, Personal verschoben und nachgeschult. Das weiß auch der Drägerwerk-Chef Stefan Dräger. „Mir ist bewusst, dass all unsere Bemühungen den aktuellen Bedarf auf der
Welt nur zum Teil decken können. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir tun was wir können.“Um den Engpass zu lindern, hat die Politik in den vergangenen Tagen selbst branchenfremde Firmen um Hilfe bei der Produktion von Beatmungsgeräten und -komponenten gebeten. BadenWürttembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wandte sich am Montag in einem Brief „mit der dringenden Frage und Bitte“an Unternehmen aus der Automobilund Maschinenbaubranche, ob diese „einen wichtigen Beitrag zur Produktion solcher Geräte“leisten könnten. Doch Beatmungsgeräte sind kein Allerweltsprodukt. Dass nun Industrieunternehmen auf die Schnelle einspringen können, dürfte schwierig werden.
„Die Komplexität einer solchen Fertigung ist ziemlich hoch, insbesondere unter Berücksichtigung der technologischen und regulatorischen Anforderungen“, sagt Drägerwerk-Firmensprecherin
Kamann. Denn die Geräte fallen unter die Medizintechnik, die strengen Zulassungen und Zertifizierungen unterliegt. Mechanik und Elektronik müssen einwandfrei funktionieren. „Beatmungsgeräte sind vom Design und den medizinischen Anforderungen her so komplex und sensibel, dass in der jetzigen Notsituation nur eine Steigerung der Produktionskapazitäten bei den etablierten Unternehmen infrage kommt“, heißt es seitens des Medizintechnikverbands BVMed.
Zudem würden neue Produktionslinien nur dann zu einer höheren Verfügbarkeit führen, wenn auch die Zulieferindustrie ihre Kapazitäten aufstockt, „was aus Sicht der regulatorischen Qualifizierung kurzfristig unmöglich ist“, glaubt Kamann. So bleibt als Hoffnung, dass die Lieferketten intakt und vor allem die Mannschaften in den Firmen gesund bleiben.